»Das Tabu ist riesengroß«

Am 6. Februar erinnert die WHO daran , dass rund drei Millionen Mädchen jährlich von dem grausamen Ritual der Beschneidung bedroht sind. Auch in Gießen gibt es Fälle - und Hilfe.
Gießen. Es war ein Schockmoment für die Erzieherin einer Gießener Kita, als sie ein Kind aus ihrer Gruppe wickeln wollte. Denn irgendetwas stimmte nicht. Das kleine Mädchen, das ergab später eine ärztliche Untersuchung, war beschnitten. Dieser Fall schlug schließlich auch in der Beratungsstelle »Wildwasser« auf, die in Gießen Hilfe für von sexueller Gewalt betroffene Frauen und Mädchen bietet. »Es stellte sich heraus, dass die kleine Schwester des Kindes ebenfalls akut von Beschneidung bedroht war, da bei der Familie eine Reise ins Herkunftsland der Eltern anstand«, berichtet Beraterin Barbara Behnen im Gespräch mit dem Anzeiger.
Weibliche Genitalverstümmelung - kurz FGM (»female genital mutilation«) - ist ein weltweit verbreitetes Verbrechen an Frauen und Mädchen. Am heutigen 6. Februar erinnert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) daran, dass rund drei Millionen Mädchen jährlich von diesem grausamen Ritual bedroht sind. Rund 200 Millionen Frauen leben mit dieser Verstümmelung. Bei der FGM werden die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane teilweise oder komplett entfernt - ohne medizinische Gründe. Die FGM wird in 29 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel und in manchen asiatischen Ländern praktiziert. Bei den Motiven der Beschneidung geht es oft um das Sicherstellen der Jungfräulichkeit, bessere Chancen auf dem Heiratsmarkt oder spirituelle Reinheit.
Zahl steigt in Hessen an
Laut einer aktuellen Mitteilung der Kinderrechtsorganisation »Plan international« leben allein in Deutschland rund 75 000 Betroffene, mehr als 20 000 Mädchen gelten als gefährdet. Dabei gewinnt das Thema seit Jahren in Deutschland an Brisanz. »Die Zahl der weiblichen Genitalverstümmelungen ist in unserem Land deutlich angestiegen«, sagt Bianca Schimmel von »pro familia Hessen« und Projektkoordinatorin bei »Hessen engagiert gegen FGM«. Grundlage ist eine Erhebung des Bundesfamilienministeriums, die seit 2017 von einem Anstieg um 44 Prozent in Deutschland ausgeht. Die meisten betroffenen Frauen stammen aus Eritrea, Somalia, Indonesien, Ägypten und dem Irak. »Die stark steigenden Zahlen hängen natürlich mit der steigenden Anzahl geflüchteter Menschen aus diesen Ländern zusammen«, weiß Schimmel.
Seit 2018 wird das hessenweite Projekt gegen FGM vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration gefördert. »Wir schulen Gesundheitspersonal zum Thema FGM sowie Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen«, berichtet Schimmel gegenüber dieser Zeitung. Auch die Vernetzung städtischer respektive staatlicher Stellen und zivilgesellschaftlicher Organisationen sei wichtig, um gut funktionierende und vertrauensvolle Kooperationsstrukturen aufzubauen. In Gießen gehört unter anderem die Beratungsstelle »Wildwasser« dazu, ebenso die Frauenklinik am Universitätsklinikum.
Die Frauen und Mädchen sind nach einer FGM starken gesundheitlichen und psychischen Problemen ausgesetzt. Die Verstümmelung bedeutet für die Betroffenen - je nachdem, welches Ausmaß die Beschneidung annimmt - regelmäßige Infektionen, Probleme beim Menstruieren und Wasserlassen, chronische Unterleibsentzündungen und Komplikationen bei der Geburt. Auch die sexuelle Empfindungsfähigkeit ist gestört.
Enormer sozialer Druck
»Hinzu kommt noch der enorme soziale Druck, dem die Frauen ausgesetzt sind«, betont Barbara Behnen. »Die Frauen und Mädchen gelten unbeschnitten als unrein und werden nicht selten verstoßen.« Deutlich wird dies bei den sogenannten »Ferienbeschneidungen«, die auch bei Familien, die in Hessen und Gießen leben, vorkommen. Valide Zahlen gibt es dafür nicht. »Das Tabu ist riesengroß«, sagt Behnen. »Da wird ein Familienurlaub in das Herkunftsland der Eltern geplant und das Mädchen weiß nicht, was es dort erwartet.« Über Beschneidung werde nicht gesprochen, das Mädchen denkt, es werde einfach eine Art »Initiationsfest« gefeiert. Dabei sind die sogenannten »Ferienbeschneidungen« strafbar. »Auch in vielen Herkunftsländern sind Beschneidungen zumindest von staatlicher Seite verboten«, erklärt Behnen.
Seit 2013 gibt es in Deutschland den Straftatbestand »Verstümmelung weiblicher Genitalien«. Ein vom Familienministerium herausgegebener Schutzbrief informiert über die Strafbarkeit von weiblicher Genitalverstümmelung und über den möglichen Verlust des Aufenthaltstitels. »Er dient vor allem dem Schutz vor weiblicher Genitalverstümmelung in den Herkunftsländern und kann im Reisepass mitgeführt werden«, erläutert Bianca Schimmel. Er soll vor allem den Familien helfen, die sich dem gesellschaftlichen und familiären Druck in den Herkunftsländern entgegenstellen möchten. Auch nach Geburten in Deutschland, bei denen die Frauen teilweise operativ »geöffnet« werden müssen, lassen sich die Betroffenen später in ihren Heimatländern wieder zunähen - aus Angst vor Ächtung. Das Thema Genitalverstümmelung wird nach Behnens Überzeugung weiterhin auch in Gießen ein Thema bleiben. »Wir von ›Wildwasser‹ werden daher gerade in diesem Jahr wieder vermehrt Aufklärungsarbeit leisten und auch unsere Kontakte zur Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung verstärken.«
Weitere Informationen:
www.fgmhessen.de
www. wildwasser-giessen.de
www.frauenrechte.de
www.asyl.net
www.liga-hessen.de