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»Das Wissen ist extrem gering«

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Die Lektüreempfehlungen zum Thema Holocaust in den Lehrplänen der Schulen seien »total veraltet«, sagt der Gießener Germanistik-Professor Sascha Feuchert. Fotos: dpa © dpa

Der Interessenverband der Deutschlehrer fordert Holocaust-Literatur als verpflichtenden Lehrstoff. Einer der Mitinitiatoren ist der Gießener Germanist Prof. Sascha Feuchert.

Gießen. Die in Deutschland, dem Land der Täter, betriebene Aufarbeitung des Holocaust gilt seit Jahrzehnten weltweit als vorbildlich. Doch jetzt schlagen Experten Alarm: Beim Wissen um die Ermordung von rund sechs Millionen europäischer Juden zeigen die Schüler immer größere Bildungslücken. In seiner gerade veröffentlichten »Paderborner Erklärung« fordert der Fachverband Deutsch (eine Abteilung des Deutschen Germanistenverbands), den Holocaust verbindlich zum Lehrstoff im Deutsch-Unterricht zu machen. Einer der Mitinitiatoren ist der Gießener Germanist Prof. Sascha Feuchert, der zudem seit 2008 die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität leitet.

Herr Feuchert, was war der Anlass für die »Paderborner Erklärung«?

Es gibt derzeit drei Krisenbefunde, die es notwendig machen, über das Thema zu sprechen. Zum einen verlieren wir zunehmend die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die noch immer durch ihre Gespräche in den Schulen ganz viel zum Holocaust-Erinnerungsdiskurs beigetragen. Das wird nicht mehr lange möglich sein, die Generation verlässt uns. Der zweite Krisenbefund: Studien zeigen, dass viele Schulabgänger zum einen das Gefühl haben, sie seien überfüttert worden mit dem Holocaust. Zum anderen ist ihr Wissen dazu aber extrem gering. Irgendetwas stimmt also nicht in der schulischen Vermittlungsarbeit. Hinzukommt - als Drittes - der enorme Anstieg von antisemitischen und fremdenfeindlichen Straftaten. Da die Schule die gesellschaftliche Institution ist, die alle durchlaufen, ist sie auch der Ort, an dem man antirassistische Arbeit und solche, die dem Antisemitismus entgegenwirkt, am nachhaltigsten gestalten kann.

Und warum geht es Ihnen nun gerade um den Deutschunterricht?

Bislang wurde das Thema ganz überwiegend dem Fach Geschichte und dem Politikunterricht aufgetragen. Das sind aber keine Kern- oder Hauptfächer, die zudem sowieso schon wahnsinnig viel innerhalb weniger Stunden stemmen müssen. Es kann dort also hauptsächlich faktenorientiert zum Holocaust gearbeitet werden. Der Deutschunterricht hat aber die Möglichkeit, durch Holocaustliteratur Einzelschicksale in den Mittelpunkt zu stellen, was hilft, diese Ereignisse wirklich zu verstehen. Beide Ansätze sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich ergänzen. Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem wir neu darüber nachdenken müssen.

Wie ist denn zu erklären, dass sich die Schüler überfüttert fühlen und doch so wenig über den Holocaust wissen?

Ihnen fehlt offensichtlich ein Zugang, der sie empathisch nachvollziehen lässt, was passiert ist. Also zu viel Faktenorientierung, zu wenig Einzelschicksale, die die Ereignisse auf menschliches Maß herunterbrechen.

Man nimmt eher Anteil an dem Leben von Anne Frank als an der Zahl von 6 Millionen ermordeter Juden ....

Das ist genau der Punkt. Deshalb ist dieser Doppelbefund so alarmierend. Viele Schüler haben das Gefühl, sie haben jetzt genug gehört - und wissen doch so wenig.

Was sind aktuell die Vorgaben in den Curricula? Gehört Anne Franks Tagebuch denn nicht dazu?

Das Tagebuch wird in vielen Bundesländern empfohlen. Der Unterschied zum Geschichtsunterricht: Anne Franks Tagebuch oder ähnliche Texte sind nicht verpflichtend. Zudem sind die Lektüreempfehlungen in den Curricula, wenn überhaupt vorhanden, total veraltet. Gerade im Hinblick auf Kinder- und Jugendliteratur für die Sekundarstufe 1. Da empfiehlt man etwa noch immer »Damals war es Friedrich« (von Hans Peter Richter, Anm. d. Red.) aus dem Jahr 1961. Es gibt da aber mittlerweile so viel Besseres. Und die Arbeit mit den Zeitzeugen-Interviews, die ja auch als Filme vorliegen, findet in den Ländervorgaben überhaupt keinen Niederschlag.

Vorgeschlagen werden von Ihnen verschiedene Formen der Vermittlung: Nicht nur Bücher, sondern auch Graphic Novels, Comics, Filme. Können Sie den Lehrern solche Materialien an die Hand geben?

Klar! Wir machen ja hier in Gießen entsprechende Lehrerfortbildungen. Aber mit der »Paderborner Erklärung« verbindet sich auch eine Aufforderung an die Universitäten, ihre Hausaufgaben zu machen. Eine Studie der FU Berlin von 2018 hat etwa untersucht, wo überhaupt das Thema Holocaust in der universitären Bildung stattfindet. Da gab es ebenfalls alarmierende Ergebnisse. In Gießen oder etwa Frankfurt haben wir sicher eine Vorreiterrolle, aber da müsste bundesweit viel mehr passieren.

Werden denn zukünftige Lehrer überhaupt noch mit dem Thema erreicht?

In Gießen ist die Holocaustliteratur fest für alle Deutsch-Lehrämter verankert. Die Seminare sind Wahlpflicht - und werden intensiv nachgefragt. Aber es wird höchste Zeit, dass wir die Dinge jetzt insgesamt verändern und voranbringen.

Die Deutschen fühlen sich häufig als Aufarbeitungs-Weltmeister. Aber man muss sich dieses düstere Geschichtskapitel immer wieder neu erarbeiten?

Richtig. Wenn manche Leute sagen, es muss doch irgendwann einmal genug sein, unterstellt das, dass die Gesellschaft gleichbleibt und die Leute irgendwann »ihre Lektion gelernt« haben. Dabei wird aber aus dem Blick verloren, dass ständig neue Generationen nachwachsen. Für die müssen wir anders und immer wieder neu über den Holocaust erzählen.

Ab wann kann der Holocaust im Unterricht auf dem Stundenplan stehen?

Man kann schon in der Grundschule beginnen. Auch diese jungen Schülerinnen und Schüler begegnen in ihrem Alltag ja Hakenkreuzen, Fremdenfeindlichkeit. All das lässt sich mit altersgerechten Medien aufnehmen. Aber spätestens in der Sekundarstufe 1 kann man im Deutschunterricht eine Menge bewegen.

Haben Sie ein paar Beispiele, was sich gewinnbringend in der Schule einsetzen ließe?

Etwa die berühmte Graphic Novel »Maus« von Art Spiegelman. Die gehört für mich in die Oberstufe, mit der kann man sehr gut arbeiten und vieles lernen. Bei der Kinder- und Jugendliteratur gibt es beispielsweise »28 Tage lang« von David Safier. Da geht es um ein jüdisches Mädchen, das im Warschauer Ghetto leben muss. Für mich im Moment der beste Jugendroman zum Thema. Ganz nah an den Ereignissen und doch unglaublich spannend erzählt. Noch etwas ganz Neues: An vielen Orten arbeiten Kollegen gerade an und zu 3D-Interviews. Da entstehen Hologramme von interviewten Zeitzeugen, die sich befragen lassen. Ich weiß nicht, ob das die endgültige Lösung ist, aber beeindruckend ist es schon.

Gibt es auch Widerstände gegen die Forderungen des Fachverbands?

Die gibt es mit Sicherheit. Wer eine 180-Grad-Wende des deutschen Erinnerungsdiskurses will, wird das natürlich nicht gut finden. Aber gerade unter den Kolleginnen und Kollegen gibt es auch eine breite Zustimmung.

Und was passiert nun als Nächstes?

Jetzt schauen wir, wie die Reaktionen ausfallen. Die Erklärung ist ein Auftakt. Ich hoffe, dass dadurch eine Diskussion in Gang kommt. Ich will nicht missverstanden werden: Es geht nicht darum, nur noch über den Holocaust zu sprechen. Es muss aber ein verbindlicher Platz für diese Texte geschaffen werden. Sonst fallen die Zeitzeugengespräche und damit die Stimmen der Opfer einfach nur ersatzlos weg. Das wäre eine Katastrophe.

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Sascha Feuchert Mitinitiator der Erklärung © Red

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