Der glücklichste Ort Gießens

Auf den Spuren eines alten Silvester-Symbols in der Pferdeklinik der Justus-Liebig-Universität Gießen - zu Besuch bei Hufschmiedin Melanie Striebinger.
Gießen . Bringen Hufeisen Glück? Da muss Melanie Striebinger erst einmal herzhaft lachen: »Natürlich bringt es Glück, wenn man ein Hufeisen findet, vor allem den Pferden«, sagt die 43-Jährige. An der Pferdeklinik der Justus-Liebig-Universität arbeitet sie als Hufbeschlagslehrmeisterin. »In jedes Hufeisen, das ein Spaziergänger findet und mit nach Hause nimmt, kann ein Pferd nämlich nicht mehr hineintreten und sich an dessen Nägeln oder Kanten verletzen.»
Sollte aber auch am alten Aberglauben etwas dran sein, dann darf man sich die altehrwürdigen Räume der Pferdeklinik im Südviertel als einen der glückverheißendsten Orte der ganzen Stadt vorstellen. Hufeisen, wohin man schaut. Sie hängen an den Wänden zur Dekoration, in verschiedenen Varianten an Lehrtafeln und sie lagern in rauen Mengen im Magazin neben der Schmiede.
Die Nachfrage ist groß. Am ersten Morgen nach dem Weihnachtsfest geben sich Pferdehalter das Halfter in die Hand, um ihre Lieblinge den fachkundigen Händen Striebingers und denen ihres Kollegen Stephan Wagner anzuvertrauen.
Es riecht verbrannt
Für nicht-hippophile Zeitgenossen, wie der Autor dieser Zeilen, ist ein Besuch in der Pferdeklinik mit vielen neuen Erkenntnissen verbunden, angefangen mit einem intensiven Geruchserlebnis. Die Schmiede riecht streng nach Tier und nach versengtem Haar. Kein Wunder, der Stoff, der unsere Häupter schmückt und der Pferde durchs Leben trägt, ist im Grunde derselbe.
Auch wer bislang davon ausgegangen ist, dass ein Pferd nur dann ein neues Hufeisen bekommt, wenn es das alte verloren hat, muss umdenken. »Im Schnitt braucht ein Pferd alle sechs bis acht Wochen einen neuen Satz Hufeisen«, sagt Striebinger. Ein Pferdehuf wächst im Monat um fast einen Zentimeter. Irgendwann läuft das Pferd dann wie auf Stöckelschuhen, kann stürzen und sich verletzen. Und weil immer mehr Pferde auch rund um Gießen gehalten werden, haben die fünf Hufschmiede, die sich die zwei Vollzeitstellen an der Veterinärklinik teilen, auch alle Hände voll zu tun.
Warum aber, fragt der Laie, braucht das Pferd überhaupt Stahlkappen am Fuß? »Von Natur aus kommen Pferde gut mit ihren eigenen Hufen zurecht«, weiß Striebinger. In der freien Wildbahn legen sie pro Tag problemlos bis zu 35 Kilometer auf der Futtersuche zurück. Das Hufeisen ist der Preis, den Pferde dafür zahlen, dass sie ein Teil der menschlichen Zivilisation geworden sind. Schon die alten Römer rüsteten ihre Pferde mit dem sogenannten Hufschuh aus, einem Vorläufer des Hufeisens, das sich spätestens im Frühmittelalter in ganz Europa verbreitete. Weil Pferde nicht nur schwere Lasten ziehen, sondern auch über eine von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr zugepflasterte und -betonierte Welt traben, kommen sie nicht mehr ohne den eisernen Hufschutz aus.
Dass Hufeisen mit mannigfaltigen Bräuchen und Vorstellungen verbunden sind, hat viele Ursachen - auch ganz praktische. Während heute in unserer Überflussgesellschaft ein Hufeisen gerade mal drei Euro kostet, war Eisen viele Jahrhunderte lang ein rares Gut. Ein Bauer, der auf dem Heimweg von seinen Feldern ein Hufeisen im Straßenstaub fand, konnte das beim Dorfschmied zu Geld machen. »Das war damals so, als würden sie heute einen Geldschein auf der Straße entdecken», erklärt Striebinger.
Von Anfang an sagte man Hufeisen auch magische Kräfte nach. Die frisch christianisierten, aber unter der Kruste der neuen Religion alten Vorstellungen nachhängenden Menschen des Mittelalters sahen in Hufeisen am Wegesrand vom Himmel gefallene Überbleibsel der »wilden Jagd« des alten Göttervaters Odin, der mit seinem Gefolge in Sturmnächten übers Firmament galoppiert. Und weil die (Tier)medizin noch in den Kinderschuhen steckte, wussten die Menschen anfangs nicht, dass Pferdehufe genauso wenig schmerzempfindlich sind wie Menschenhaar. Dass ein Pferd sich vom Schmied klaglos mit Feuer und Eisen traktieren ließ, konnten sie sich nur mit der Magie des Hufeisens erklären.
Für solche Überlegungen bleibt im anstrengenden Alltag von Melanie Striebinger und ihren Kollegen nur wenig Zeit. Bis zu tausend Tiere werden jedes Jahr in der Pferdeklinik neu beschlagen. Das ist nicht nur Routine, sondern bei verletzten und vorgeschädigten Tieren eine mitunter heikle Aufgabe. Der 15-jährige »Partout« etwa hat an einem Huf einen nur langsam abheilenden Abszess. Dessen Heilung wird zunächst von der Tierärztin Kerstin Wolff begutachtet, dann gibt diese Striebinger ihr Okay. Bevor die wiederum ein spezielles orthopädisches Hufeisen anbringt, wird der lädierte Huf mit einer Teerpaste ausgestrichen und mit einer Hanfeinlage stabilisiert. Manchmal hat Striebinger aber auch ungewöhnlichere Patienten. Als sie einmal im Leipziger Zoo die Hufpflege einer Giraffe übernahm, kam sie damit sogar ins Fernsehen.
Seit 23 Jahren arbeitet die aus Alten-Buseck stammende Mutter einer Tochter schon in der Pferdeklinik. Das ist länger als Antonia Küppers auf der Welt ist. Die 19-Jährige aus Schweinsberg bei Stadtallendorf hat gerade eine Ausbildung im Metallbau begonnen, ihren Schwerpunkt aber bereits auf die Hufschmiede gelegt. Beide eint die Liebe zum Pferd und zu einem Beruf, bei dem man richtig anpacken muss. Antonias Berufsperspektiven dürften jedenfalls rosig sein. Mehr noch als andere Branchen herrscht bei den Hufschmieden Nachwuchsmangel, gleichzeitig wächst die Zahl der Pferde stetig.
Wie rum denn nun?
Womit wir auch am Ende und bei der Frage aller Fragen wären. Wie herum hängt man denn nun das Hufeisen an die Wand? »Natürlich mit der Öffnung nach oben«, betont Melanie Striebinger, »sonst kann es das Glück ja nicht auffangen und bewahren«. Das ist die verbreitete Lesart, die sich bei uns seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hat. Viel länger hingen in Europa aber Hufeisen mit der Öffnung nach unten über Hoftoren und Haustüren.
Während wir aufgeklärteren Zeitgenossen zuvorderst an der Steigerung unseres Wohlbefindens interessiert sind, ging es den abergläubischeren Altvorderen in erster Linie um die Abwehr allerlei Unheils. Das Hufeisen war für sie kein Glücksbote, sondern ein Abwehrzauber. Der Glaube an die Schutzkraft des Hufeisens geht zurück auf eine Legende um den heiligen Dunstan. Bevor er Bischof von Canterbury wurde, arbeitete er als Hufschmied. Eines Tages bat ihn der Teufel höchstselbst, seinen Pferdefuß zu beschlagen. Der Gottesmann nutzte die Gunst der Stunde, band den Teufel am Amboss fest und drosch mit dem Schmiedehammer auf ihn ein. Den Höllenfürsten machte er erst wieder los, als der ihm versprochen hatte, niemals mehr einen Ort zu betreten, über dem ein Hufeisen hängt.
Es gibt allerdings auch eine dritte Variante, die empfiehlt, das Hufeisen mit der Öffnung nach rechts anzubringen, weil das an das C in Christus erinnert. Man sieht: Mit einem Hufeisen kann man eigentlich kaum etwas verkehrt machen.

