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Der Griff nach den Sternen

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Konfrontiert mit der eigenen Zukunft: die drei Schülerinnen (von links) Riquelme (Anne-Elise Minetti), Maldonado (Carolin Weber) und Fuenzalida (Paula Schrötter) werfen einen Blick nach vorn. Foto: Lena Bils © Lena Bils

Premiere im Großen Haus: Das Schauspiel »Mädchenschule« erzählt von drei jungen Frauen, die in einer neuen Welt aufwachen - und von Idealismus, Traum und Wirklichkeit.

Gießen. Der Idealismus gehört zur Jugend wie Pickel, Zahnspange und nervige Lehrer. Doch was, wenn man aus dem unschuldigen Traum von einer besseren Welt erwacht - und feststellt, dass die Zeit längst darüber hinweggegangen ist? Und wie vertragen sich die einstmals gewonnenen Überzeugungen mit der nüchternen Realität? Mit diesen hochaktuellen Fragen beschäftigt sich die 2015 veröffentlichte Schauspiel-Parabel »Mädchenschule« der chilenischen Autorin Nona Fernandez, die am Sonntagabend Premiere im Großen Haus des Stadttheaters feierte. In rund zwei Stunden Spielzeit mischt das Stück Tragik und Komik, Geschichte und Physik, Aus- und Einblicke miteinander. Der Applaus für Regisseurin Anais Durand-Mauplit und ihr Ensemble fiel am Ende lautstark und langanhaltend aus.

Drei Schülerinnen im Zeittunnel

Es beginnt mit einem depressiven Physiklehrer (der überzeugende Ensemble-Neuzugang Ben Janssen), der, vermeintlich allein in seiner Schule, auf drei junge Frauen stößt, die aus einem Kellerversteck kriechen und ihn kurzerhand als Geisel nehmen. Das Ganze beruht allerdings auf einem Missverständnis, denn das in knallbunten Retroklamotten steckende Trio (Bühne und Kostüme: Hilke Fomferra) wähnt sich, von Polizei umstellt, inmitten einer Schulbesetzung, die sich offensichtlich an gleicher Stelle, aber in einer längst vergangenen Vergangenheit abgespielt haben muss. Doch diese irritierende Zeitverschiebung wird den Protestlerinnen (Anne-Elise Minetti, Carolin Weber, Paula Schrötter) erst im Laufe des Stücks bewusst. Zugleich entfaltet sich - auch dank verschiedener inhaltlicher Einschübe um einen charismatischen Anführer der Schulrevolte (David Gaviria) - ein Blick zurück in eine Zeit, in der die jungen Frauen und Männer gegen Unfreiheit, Willkür und Gewalt auf die Barrikaden gingen.

Als Folie nutzt die Autorin, Jahrgang 1971, dafür die blutige Geschichte ihrer chilenischen Heimat, die bis zum Ende des Ost-West-Konflikts vom Pinochet-Militärregime regiert wurde. Ebenso wie den Hintergrund einer Schulbesetzung aus dem Jahr 1985, in deren Zuge auch zwei jugendliche Brüder von der Polizei in einen Hinterhalt gelockt und erschossen wurden.

Doch die Details der realen Vorlage sind für das Verständnis der Geschichte nicht von entscheidender Bedeutung. Wenngleich der Rückblick auf die gewaltsame Erstürmung der Schule durch die Polizei zu den intensivsten Momenten des Stücks gehört. Doch mehr und mehr steht in Durand-Mauplits Inszenierung die Frage im Raum, wie sich der eigene Idealismus mit der ernüchternden, vom Lehrer verkörperten Wirklichkeit verträgt.

Zunächst müssen die drei jung gealterten Frauen einsehen, dass es mit ihren Träumen von einer Karriere als Juristin oder Politikerin nichts mehr werden wird. Das birgt einiges Potenzial für gewitzte Zwischenstücke. Doch dann wird es dramatisch, als eine Lebenslüge auf den Tisch kommt und mancher Beteiligten die Augen geöffnet werden. Zugleich bleibt aber auch Raum für Hoffnung, wenn der Lehrer seinen neu gewonnenen Schülerinnen Verbindungen von Raum und Zeit erläutert und die Bühne dabei den Blick freigibt auf die unendlichen Weiten des Alls. Der Griff nach den Sternen bleibt hier weiter eine Option.

Mit zum Überzeugendsten dieser Inszenierung gehört dabei die musikalische Begleitung eines Multiinstrumentalisten mit Künstlername Margarethe Zucker, der virtuos die verschiedensten Tonlagen anzustimmen versteht. Er sorgt mit Synthesizer und E-Bass für elektronisches Geblubber ebenso wie für rockige New-Wave-Klänge, für subtile Tonspuren wie für das immer wieder klingelnde Telefon samt unverständlichem Gegenüber am anderen Ende der Leitung. Das ist virtuos, originell und weit mehr als nur eine passende Klanguntermalung.

So führt dieses Stück schließlich zur entscheidenden Frage des Abends, die gegen Ende der depressive Lehrer sich selbst und seinem Publikum stellt: Soll er weiter seine sedierenden Pillen schlucken oder sich nicht besser doch der Wirklichkeit seiner Existenz stellen - egal wie trist und grau sie auch ausfallen mag? Die Zukunft bleibt offen.

Nächste Vorstellungen: 11. März, 1. und 15. April.

Anlässlich des Internationalen Frauentags lädt das Stadttheater zu einer Lesung mit Gespräch ins Kleine Haus. Die Schauspielerinnen Izabella Radic und Carolin Weber lesen Auszüge aus Golineh Atais Buch »Iran - die Freiheit ist weiblich« am Mittwoch, 8. März, um 20 Uhr. Als Tochter zweier Exil-Iraner beschreibt sie in ihrem Buch »Iran - Die Freiheit ist weiblich« den täglichen Kampf iranischer Frauen gegen das Mullah-Regime. Begleitet wird die Lesung von Amin Ebrahimi, der an Klarinette und Flügel iranische Klänge spielt. Im Anschluss spricht Intendantin Simone Sterr mit der iranischen Fotografin Forough Kanaani und möchte auch mit dem Publikum ins Gespräch kommen. (red)

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