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Der »liebe Onkel« von nebenan

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Gießen (bcz). Opfer, die selbst zu Tätern werden - diese Feststellung scheint auch bei dem Prozess der Fall zu sein, der aktuell vor der ersten Großen Strafkammer des Landgerichts Gießen verhandelt wird: Einem 47-jährigen Mann wird eine Vielzahl von sexuellen Handlungen mit drei Jungen vorgeworfen, die er teilweise auch filmte. Diese selbst hergestellten Filme, so wie einige Fotos wurden bei einer Wohnungsdurchsuchung gefunden.

Insgesamt wirft ihm die Staatsanwaltschaft 41 sexuell motivierte Taten vor. Hinzukommt noch eine Vielzahl von pornografischen Filmen jeglicher Art, die er aus dem Dark-net heruntergeladen hatte. Die sind jedoch nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

Für die Jungs in seiner Umgebung war er der nette Onkel, bei dem man gut abhängen konnte, der mit ihnen Quatsch machte und bei dem man Videospiele spielen konnte. »Die Jungs kamen immer gern zu mir«, sagte er. In dieser vertrauten Atmosphäre sei es zu den sexuellen Übergriffen gekommen. Diesen Fakt bestreitet der Angeklagte auch im Prinzip nicht, lediglich die Häufigkeit. Der Angeklagte, der seit seiner Verhaftung in Untersuchungshaft sitzt, gibt sich geständig und reumütig, ist bei seiner Aussage emotional aufgewühlt. »Ich hätte das niemals zulassen sollen. Ich bin schuldig, ich habe die Strafe verdient«, sagte er zu Beginn des ersten Verhandlungstags. Der Zeitraum, in dem sich die Taten ereignet haben sollen, erstreckt sich von 2002 bis 2021. Allerdings gliedern sich die Taten in zwei Zeiträume auf: Der erste Tatzeitraum erstreckt sich auf die Jahre 2002 bis 2007. In diesem Zeitrahmen soll er sich mehrfach und auf unterschiedlichste Weise vor allem an einem Nachbarsjungen vergangen haben, bis hin zu Oralsex. Der Junge war zu Beginn der Taten zehn Jahre alt. Ein zweiter Junge, der Freund des ersten, soll mindestens eine dieser Taten mitangesehen haben. Auch er soll Opfer des Angeklagten geworden sein, jedoch nicht so häufig wie sein Freund.

Die anderen Übergriffe mit einem anderen, ebenfalls zehnjährigen Jungen sollen sich Mitte des vergangenen Jahres zugetragen haben. Aus Gründen des Jugendschutzes wurden diese Anklagepunkte jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgetragen. Auch diese Taten, die er teilweise gefilmt hat, gibt er zu. »Ja, das was der Junge gesagt hat, das stimmt«.

Der Angeklagte sagte von sich selbst, dass er nicht pädophil sei, er sich diese sexuellen Taten nicht erklären könne und sie ihm auch sehr leid täten. Sie seien alle unter Alkoholeinfluss entstanden. »Daran ist nur der Alkohol schuld. Wenn ich erst einmal einfange zu trinken, dann höre ich erst auf, wenn ich umfalle«. Laut seiner eigenen Angaben trinkt er regelmäßig seit seinem 18. Lebensjahr Alkohol. Der Konsum habe sich langsam aber kontinuierlich gesteigert, bis er zuletzt pro Tag bis zu vier Flaschen Schnaps (30-prozentigen Klaren) getrunken hätte. »Wenn ich nüchtern bin, dann mach‹ ich so etwas nicht«.

Er wuchs in Darmstadt auf und wurde selbst in seiner Jugend in den 1980er Jahren Opfer eines Sexualtäters. In der Grundschule begann der sexuelle Missbrauch durch einen Lehrer, der erst endete als er 18 Jahre alt war. Gegen diesen pädophilen Lehrer gab es ein Verfahren, er wurde verurteilt und verstarb vor einiger Zeit im Gefängnis. Richter Andreas Wellenkötter fragte ihn daraufhin, wie das zusammengehen könnte, dass er Kinder missbraucht hätte, ob wohl er dies selbst durchlebt habe. Seine Antwort darauf war, dass es bei dem Lehrer mit Gewalt gewesen sei, bei ihm hätten alle freiwillig mitgemacht. »Wenn einer gesagt hat, ich will das nicht, dann habe ich aufgehört«.

Auf Nachfrage, was in den Jahren zwischen 2008 und 2021 in Hinblick auf seine sexuellen Neigungen gesehen sei, sagte er, dass da nichts vorgefallen sei, da sei er »auf Handbetrieb« umgestiegen.

Inwieweit noch weitere Kinder und Jugendliche von ihm sexuell belästigt wurden, das muss im Rahmen der weiteren Verhandlungstage noch herausgearbeitet werden. Der Prozess wird heute fortgesetzt.

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