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Der Mann, der Eisenhower bombardierte

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Von: Ingo Berghöfer

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Nach seiner medizinischen Laufbahn hat Fritz Lampert zahlreiche Bücher geschrieben, darunter auch seine Autobiografie »Tour des Lebens«. Foto: Berghöfer © Berghöfer

Ab heute kann der Arzt und Begründer der »Tour der Hoffnung« Fritz Lampert auf neun Jahrzehnte zurückblicken - Ein Porträt

Gießen . »Was wollen Sie denn noch über mich schreiben? Das hat doch alles schon zig mal in der Zeitung gestanden oder finden Sie auf Wikipedia.« Stimmt, die Meriten von Fritz Lampert als Krebsforscher, Professor an der Kinderklinik der Justus-Liebig-Universität, Begründer der »Tour Peiper« und späteren »Tour der Hoffnung« zur Unterstützung krebskranker Kinder sind hinlänglich bekannt. Aber Lampert hat in seinen neun Lebensjahrzehnten - die er am heutigen Donnerstag vollendet - weit mehr er- und überlebt. »Ich bin dem Deibel mindestens dreimal von der Schippe gesprungen«, erzählt er im Gespräch mit dem Anzeiger. Außerdem kann er sich rühmen, bereits im zarten Alter von zwölf Jahren ein erfolgreiches Attentat auf den Befehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa und späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower verübt zu haben. Der, beziehungsweise die US-Armee, hatten ihm dafür aber auch allen Grund gegeben - und das kam so:

Im Mai 1945 klingelte es an der Villa der Lamperts im mondänen Bad Homburg. Bis dahin hatte der kleine Fritz, der mit seinen fünf Geschwistern in großbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs, eine relativ unbeschwerte Kindheit gehabt. Die Wirren des zu Ende gehenden Krieges und die Sorge um den Vater, der als Lazarettkommandant in Kriegsgefangenschaft geraten war, hatte die Mutter weitgehend von den Kindern abgeschirmt. Damit war es nun aber mit einem Schlag vorbei. Zwei Stunden Zeit gaben ihnen die amerikanischen Soldaten, die standesgemäße Quartiere für die Herren Generale suchten, um das Elternhaus zu räumen. Fortan musste sich die siebenköpfige Familie mit einem Raum im vierten Stock des Bad Homburger Krankenhauses begnügen.

»Für unsere Mutter war das sicherlich sehr schlimm, für uns Kinder zum Glück aber eher ein großes Abenteuer«, erinnert sich Lampert bei Tee und Gebäck in seinem Wohnzimmer. Irgendwann entdeckten er und sein zwei Jahre jüngerer Bruder, dass jeden Morgen General Eisenhower in offener Limousine mit seiner Kavalkade aus Begleitfahrzeugen unter ihrem Fenster vorbeifuhr; in zwei Kinderköpfen begann ein Plan zu reifen.

Vom General begnadigt

»Als er eines Tages wieder vorbeikam, haben wir von oben vier, fünf Wasserbomben auf ihn geworfen, und wir haben auch getroffen«, erinnert er sich schmunzelnd. Was dann folgte, war für die beiden Attentäter allerdings weniger lustig: Quietschende Reifen, Vollbremsung, gebellte Befehle, donnernde Stiefel im Treppenhaus, aufgerissene Türen, Maschinenpistolen und grobe Hände am Schlafittchen«.

»Ich habe da wirklich zum ersten Mal in meinem Leben Todesangst gehabt«, erinnert sich der Mediziner, »ich dachte, die erschießen uns jetzt.« Statt an die Wand stellten Eisenhowers Leibwächter die beiden Angreifer vor ihr sichtlich verdutztes Opfer. Der habe sie dann mit den Worten: »These are kids. Let them go!« »Das sind Kinder. Lasst sie gehen!« begnadigt.

»Unsere Mutter war wohl wütender auf uns, als der General«, meint der 90-Jährige heute, der Eisenhower übrigens Jahrzehnte später noch ein weiteres Mal in seinem Leben begegnet ist. Ende der 1960er Jahre arbeitete Lampert am »Armed Forces Institute of Pathology«. Diese Klinik in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington war eine der wissenschaftlich führenden Krankenhäuser der Welt. Sie beherbergte auch eines der damals raren Elektronenmikroskope, an dem Lampert über die Entstehung der Leukämie forschte. Eines Tages habe es plötzlich eine große Aufregung gegeben und die Flure füllten sich mit Uniform- und Anzugträgern. Auf seine Frage hin habe er dann erfahren, dass gerade der frühere US-Präsident Eisenhower gestorben sei und nun obduziert werden solle. »So habe ich ihn noch einmal gesehen - oder wenigstens seinen Sarg.«

Die Medizin, in der er sich mit seiner Forschung zur Leukämie bleibende Meriten erworben hat, war Fritz Lampert trotz familiärer Vorprägung nicht in die Wiege gelegt worden. »Eigentlich wollte ich lieber Chemie studieren, und ein älterer Bruder studierte bereits Medizin. Die Familientradition war also bereits gewahrt«, erinnert er sich. Eingeschrieben habe er sich 1953 schließlich für den Studiengang »Psychologie«, um nach einem Jahr doch zu den Medizinern zu wechseln. Ein Leben als »Halbgott in Weiß« stillte freilich nicht Lamperts Abenteuerlust. Durch langjährige US-Aufenthalte in Kontakt mit der religiösen Gemeinschaft der Quäker und deren humanitärem Engagement in der ganzen Welt herum gekommen, begann er 1962 in seinen Urlauben, in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt ehrenamtlich als Arzt zu helfen.

Ein Loblied auf die Gattin

»Im Lauf der Jahre habe ich so alle Kontinente außer Australien bereist, aber Urlaub habe ich dort nie gemacht«, sagt Lampert, der bei dieser Gelegenheit ein Loblied auf seine Frau anstimmt. Ein Jahr waren die beiden gerade erst verheiratet, als sie ihn nach Algerien begleitete, ein Land, in dem damals ein blutiger Kolonialkrieg zwischen den französischen Besatzern und der algerischen Befreiungsbewegung tobte. 61 Jahre, »vier herrliche Kinder« und sechs Enkel später sind sie es immer noch und gehen gemeinsam durchs Leben. Fritz Lampert weiß, dass das, zumal in seinem hohen Alter, keine Selbstverständlichkeit ist.

Algerien hat ihn geprägt, sagt er. Das Land sei ungemein faszinierend, aber auch ein Kulturschock für ihn gewesen. Ob das nun der Beduine war, der eines Tages vor ihm gestanden habe und kategorisch verlangte, all seinen vier Frauen die vereiterten Zähne zu ziehen. Lamperts Einwand, er sei ja kein Zahnarzt, habe der Scheich nicht gelten lassen, »also habe ich es gemacht«.

Wenn er dann von dem fast verdursteten Säugling erzählt, dem er nur deshalb das Leben retten konnte, weil er zufällig noch einen Beutel Infusionsflüssigkeit in seiner Tasche hatte, merkt man, dass Lampert sich anstrengt, die Tränen zurückzuhalten. Obwohl er seit einigen Jahren fast blind ist, spürt er, dass das sein Gesprächspartner bemerkt hat. »Wenn man älter wird, werden die Gefühle in einem stärker«, erklärt er entschuldigend (obwohl es da ja nichts zu entschuldigen gibt). »Solange man in der Klinik ist, darf man das Schicksal der Patienten nicht zu dicht an sich heranlassen, sonst hat man keinen klaren Kopf für seine Arbeit.«

Und Lampert hat etliche Schicksale miterlebt. Als er begann, die Leukämie zu erforschen, lag die Sterblichkeit bei den Opfern dieser Krankheit noch bei nahezu 100 Prozent. Als Lampert emeritiert wurde, überlebten bereits vier von fünf Patienten. Und daran hat er einen nicht unerheblichen Anteil.

Mit sichtlichem Stolz zeigt er eine im vergangenen Jahr erschienene Studie in einem medizinischen Fachjournal, deren Autoren sich nicht nur ausdrücklich auf die »bemerkenswerten Einsichten Lamperts« berufen, sondern auch schreiben, dass Lamperts Erkenntnisse in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder experimentell bestätigt wurden und so die Grundlage für weitere Forschung bildeten.

»Im Ruhestand kommt vieles wieder hoch«, meint er, »aber man erlebt auch wunderbare Begegnungen«. Wenn er mit seinem Hund (der offensichtlich den Weg für beide kennt) im heimischen Südviertel seine Runden dreht, werde er immer noch von ehemaligen Patienten erkannt und angesprochen. »Das sind Momente, die unter die Haut gehen.«

Auch wenn er als Arzt wohl beherrschter gewesen ist, als heute im Ruhestand: Kalt gelassen haben ihn die Schicksale seiner Patienten und auch von deren Angehörigen nie. Nicht von ungefähr hat er 1983 gemeinsam mit dem damaligen ZDF-Moderator Dieter Kürten die »Tour Peiper« ins Leben gerufen, um Geld für diejenigen zu sammeln, die im Medizinbetrieb hinten runterfallen. Diese Radtour mit prominenten Teilnehmern sollte Spenden sammeln, um ein »Eltern-Haus« bauen zu können für die Angehörigen der kleinen Patienten. Diese müssen oft wochenlang behandelt werden und nicht jede Familie hat die finanziellen Mittel, um solange in einem Hotel zu leben, erkannte Lampert. Das »Eltern-Haus« ist längst gebaut und noch viel mehr. Bis heute haben die Teilnehmer der Tour mehr als 35 Millionen Euro eingefahren und Lampert hat bis 2021 jedes Jahr selbst in die Pedale getreten.

Glaubensstark

Mit Dieter Kürten verbindet ihn bis heute eine Freundschaft. Beide machen aus ihrem christlichen Glauben keinen Hehl. Fritz Lampert hält manchmal in einer benachbarten Kirchengemeinde die Predigt. Wissenschaft und Religion, das sind für ihn keine Gegensätze. »Alle, die die Bibel ablehnen, haben sie nicht oder nur oberflächlich gelesen«, ist er überzeugt. Gleichwohl ist für ihn das größte Wunder die Evolution. Die Bibel und die Wissenschaft als Streben nach Erkenntnis hätten ihm Demut gelehrt. Demut mache aus uns bessere Menschen, und es sei bezeichnend, dass so vielen Menschen in unserer Gegenwart Demut fremd sei, sagt er.

Auf einen Gratulanten freut sich Fritz Lampert heute übrigens besonders. »Ich habe gehört, dass mich auch der Oberbürgermeister besucht. Der Mann ist ja studierter Theologe. Das wird sicher ein spannendes Gespräch.«

Last but not least muss sich der Jubilar dann noch die Frage gefallen lassen, vor der niemand, der die 100 in Sichtweite hat, verschont bleibt. »Das Geheimnis meines langen Lebens? Ganz einfach: Jeden Tag eine Banane und ein Riegel Haselnussschokolade.« Ein alter Freund, ebenfalls Arzt, habe ihm von diesen Genüssen abgeraten, weil die ein todsicheres Rezept für Diabetes seien. Nur sei die Krankheit ihm bislang erspart geblieben. »Und jetzt mit 90 ist mir das auch egal«, feixt Lampert.

Das wahre Rezept eines langen Lebens ist vielleicht ein anderes. Wenn man mit dem trotz seiner 90 Jahre agilen Jubilar spricht, dann merkt man, dass er sein Leben intensiv und mit allen Fasern gelebt hat, dass er sich bis heute die Neugierde auf den kommenden Tag bewahrt hat.

Unsere Praktikantin, die noch nicht einmal ein Fünftel von Lamperts Zeit auf dieser Erde zugebracht hat, wünscht sich von ihm beim Abschied noch ein Lebensmotto: Fritz Lampert muss nicht lange nachdenken und zitiert dann Friedrich Nietzsche: »War das das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!«

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