Der Mann mit dem Hund

Unser Gießener Kolumnist Götz Eisenberg blickt diesmal auf Löcher hinter Bauzäunen, belauscht Drohungen mit dem Anwalt und nimmt ein Bad in der Lahn.
Gießen. Auf dem Rückweg von der Lahn in die Stadt kam mir in einer Gasse hinter dem Stadtkirchenturm eine junge Frau mit ihrem Sohn entgegen, der sie auf einem kleinen Fahrrad umkreiste. Als sie in meiner Höhe war, sagte sie laut und energisch: »So, ich hab mir jetzt einen Anwalt genommen!« Wahrscheinlich war das eine Kampfansage an einen bestimmten Mann, vermutlich den Vater des Jungen. Es könnte aber auch ihr Chef gemeint sein, der ihr übel mitgespielt oder sie entlassen hat. Sie könnte sie aber auch an die Welt im Allgemeinen adressiert haben, so als wollte sie sagen: »Jetzt lass’ ich mir nichts mehr gefallen, zieht euch warm an!«
Einlicke in die Eingeweide
Vor unserem Haus ist der Gehweg aufgerissen. Das Loch gibt den Blick frei in die sonst verborgenen Eingeweide der Stadt, die aus Röhren, Rohren und Kabeln besteht. Auf Männer aller Altersklassen üben solche Löcher eine große Anziehungskraft aus. Sie bleiben stehen, beugen sich über den Rand des Loches und starren hinein. Selbst kleine Knirpse zwingen ihre Mütter zum Stehenbleiben und überschütten sie mit Fragen zu den Leitungen und Rohren. Löcher erzeugen ein Schwindelgefühl, weil sie uns mit einem Abgrund konfrontieren und ein Verschlungenwerden in Aussicht stellen. Ein eigenartiges Angst-Lust-Gemisch ergreift von uns Besitz. Die Natur des Lochs ist dunkel und nächtlich, an seinem Grund liegt etwas verborgen. Was es ist, wissen wir nicht. Vielleicht das Nichts. Woyzeck und seinem Schöpfer Büchner waren der Schwindel, der uns beim Schauen in Abgründe befällt, vertraut.
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Das Amtsgericht Frankfurt hat eine 15-Jährige verwarnt und zur Teilnahme an erzieherischen Maßnahmen verurteilt. Das Mädchen hatte am Tattag mit dem Attentäter von Uvalde gechattet, der am 24. Mai diesen Jahres an einer Schule in Texas 19 Kinder und zwei Lehrerinnen erschossen hat. Der Täter hatte ihr geschrieben, er habe gerade seiner Großmutter in den Kopf geschossen und werde jetzt eine »Grundschule zerschießen«. Ihr Kommentar zum angekündigten Massaker: »Cool«. Erziehungsmaßnahmen haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie im Inneren an etwas andocken können. In diesem Fall trifft vermutlich zu, was der amerikanische Sprachwissenschaftler Barry Sanders über die Digital Natives geschrieben hat: »In ihrem Inneren - da, wo andere ohne langes Suchen auf ihr Gewissen und auf Schuldgefühle stoßen - finden diese 14- oder 17-, 18-Jährigen nichts vor. Das gesamte System der inneren Regulierung des Sozialverhaltens ist bei ihnen ausgelöscht. Vom Gesellschaftsvertrag hat sich nichts, kein einziger Satz, dem geschichtlich gewordenen verinnerlichten Text eingeschrieben, der das Selbst konstituiert. Da ist kein verhaltenssteuerndes Gewissen mehr.«
Wilde Sprünge der Hirnantilope
Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass heute womöglich die letzte Gelegenheit bestünde, noch einmal in die Lahn zu springen und ein paar Züge zu schwimmen. Die Sonne hatte den morgendlichen Nebel aufgezehrt und strahlte nun von einem tiefblauen Himmel. Zur Einstimmung hörte ich ein paar alte Platten und Stücke, zum Beispiel »Lodi« von Creedence Clearwater Revival und »I’m Going Home« von Alvin Lee, das er seinerzeit in Woodstock gespielt hat.
Nichts veranlasst meine Hirnantilope zu solch wilden Sprüngen wie das Hören alter Musikstücke, die mit Erinnerungen verknüpft sind und Assoziationen auslösen. Ich habe die Rockmusik relativ spät für mich entdeckt. Mein Elternhaus schirmte mich gegen solch gefährliche Einflüsse aus dem englischen Sprachraum perfekt ab. Erst ein kleines Transistorradio, das mir mein Großvater hinter dem Rücken der Eltern schenkte, verschaffte mir in der Oberstufe einen heimlichen Zugang zu Beat und Rock. Richtig kennengelernt habe ich diese Musikstile erst in meiner ersten Wohngemeinschaft ab den späten 1960er Jahren. Wenn wir unsere Lektüre gegen Mitternacht beiseite legten, lud Burkhard mich in sein Zimmer ein, wo er irgendeine Platte auflegte und uns einen spanischen Brandy einschenkte. Ihm verdanke ich die Begegnung mit Jimi Hendrix, Janis Joplin, vor allem Cream und Colosseum, seinen absoluten Göttern.
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Gegen 13 Uhr fuhr ich also mit dem Rad zur Lahn. Mein Badeplatz war menschenleer und die Sonne stand gut. Ich setzte mich auf die Treppe und las. Die Sonne wärmte wohlig meinen Rücken, und ich las sicher eineinhalb Stunden in einem mitgeführten Buch. Drei oder vier Mal sah ich mit schrillen Pfiffen einen Eisvogel vorüber flitzen. Sein Gefieder leuchtete in der tiefstehenden Sonne. Es ging ein kräftiger Wind, der Blätter von den Bäumen riss und über den Fluss trieb.
Dann machte ich auf dem Steg ein paar gymnastische Übungen. Plötzlich fühlte ich mich leicht und von einem Strom des Lebendigen durchpulst. Übermütig stieg ich aus meinen Kleidern und kletterte in den Fluss. Bei 13 Grad Wassertemperatur waren nur ein paar Schwimmzüge drin, aber es war toll und ich genoss es. Es ist auch für mich etwas Besonderes, Anfang November noch in die Lahn zu springen. Als die Sonne hinter den Bäumen versank, fuhr ich nach Hause. Kaum hatte mich der rasende städtische Verkehr und der mit ihm verbundene Lärm wieder verschlungen, war es mit dem Glücksgefühl auch schon wieder vorbei.
Zwei freundliche Zeitgenossen
Vorn im Park begegnet mir seit Längerem immer mal wieder ein älterer Herr, den ich bei mir den »Mann mit dem Hund« nenne. Häufig kann man beobachten, dass fiese Typen sich mit fiesen Hunden zusammentun. Diese Hunde sind eigentlich gar keine Hunde, sondern das nach außen verlagerte Aggressionspotenzial ihrer Besitzer. Hier ist es genau umgekehrt: Ein freundlicher Mann hat sich mit einem freundlichen Hund zusammengetan. Der Mann ist in meinem Alter und von schlichter Eleganz. Er trägt um diese Jahreszeit eine wärmende Jacke und einen Hut. Er führt seinen Hund, der mittelgroß und ein wenig zottelig ist, an der Leine, lässt ihm aber die Zeit, die er für die Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigt.
Es scheint ein ruhiges Einvernehmen zwischen den beiden zu bestehen. Seit einiger Zeit grüßen wir uns. Schon länger wollte ich ihn auf einen Roman von Georges Simenon hinweisen, der »Der Mann mit dem kleinen Hund« heißt und zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Alfred Andersch hat über dieses Buch gesagt: »Hätte Simenon nichts geschrieben, als den ,Mann mit dem kleinen Hund‘, er hätte das Seine getan.« Meine beiden aus dem Park erinnern mich stets an dieses von Simenon geschilderte Paar, das aus Herrn Allard und dem Hund Bib besteht.
Heute schien mir die Gelegenheit günstig, und ich sprach den Mann an. Es entwickelte sich eines dieser leichten und belanglosen Gespräche, wie sie sich unter fremden Menschen manchmal ergeben. Währenddessen wuselte der Hund durchs Herbstlaub und stellte hier und da eine Stange Wasser ab. Es gibt in diesem Park viel für ihn zu tun und zu markieren. Der Mann kommentierte das mit den Worten: »Er pieselt nicht, heutige Hunde setzen Posts ab.« Ich konnte noch meinen Buch-Tipp loswerden, dann zog der Hund seinen Herrn an der Leine mit sich fort.
Götz Eisenberg, Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs, arbeitet an einer fortlaufenden Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« erschienen ist. Foto: Archiv
