Der Mann mit dem Röntgen-Blick

Heute vor 100 Jahren starb der weltberühmte einstige Physikalische Direktor der Universität Gießen. Seine Entdeckungen waren bahnbrechend.
Gießen. Eigentlich hätte 2020 sein großes Jubiläum gefeiert werden sollen. Denn 125 Jahre zuvor entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die bald darauf nach ihm entdeckten Strahlen. Sie brachten ihm den Physiknobelpreis ein - und der Menschheit die Möglichkeit, ins Innere des Körpers zu schauen. Hinzu kam der 175. Geburtstag des am 27. März 1845 in Lennep, einem heutigen Stadtteil vom Remscheid, geborenen Forschers.
Doch die Corona-Pandemie machte den Plänen für eine feierliche Würdigung einen Strich durch die Rechnung. Nun folgt den nächste Gedenktag: Heute vor 100 Jahren ist der Mann gestorben, der von 1879 bis 1888 in Gießen geforscht und gelehrt hat. Anlass, um an sein Werk, sein Leben und seine Spuren zu erinnern, die er in der Stadt hinterlassen hat,
Immerhin: Ganz ohne Folgen blieb das Röntgen-Jahr 2020 in der Stadt nicht. Die Justus-Liebig-Universität (JLU) brachte ein Faksimile seiner Nobelpreis-Urkunde von 1901 im Flur des ehemaligen Physikalischen Instituts im Uni-Hauptgebäude an. Dort also, wo er einst selbst forschte und den Röntgen-Strom entdeckte. Hinzu kam ein Street-Art-Wandgemälde mit Röntgen-Motiven, dass seitdem die Trafo-Station zwischen dem Universitätshauptgebäude und dem Theaterlabor ziert. Es wurde vom Gießener Künstlerkollektiv 3Steps gestaltet.
Seine Bedeutung war schon bei seinem Tod bereits öffentliches Allgemeingut. Der Gießener Anzeiger schrieb damals in seinem Nachruf: » Die Röntgenröhren sind jetzt in jedem Krankenhause unentbehrlich, viele Privatärzte bestrahlen und untersuchen damit, besondere Spezialisten bilden sich als Röntgenoölogen aus. Die Anwendung in der Inneren Medizin, in der Chirurgie wie in der Dermatologie wird noch dauernd erweitert.«
Nicht zu ahnen war damals allerdings, welche Auswirkungen seine bahnbrechende Leistung noch 100 Jahre später haben sollte. »Röntgenstrahlung ist aus unserem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken«, sagte im Jahr 2020 Prof. Markus Thoma, Leiter der AG Atom-, Plasma- und Raumfahrtphysik in Gießen. Nicht nur in der Medizin, Biologie und Materialwissenschaften spiele sie eine wichtige Rolle, sondern auch in den Grundlagenwissenschaften wie der Astrophysik. »So sind schwarze Löcher, für deren Entdeckung der deutsche Astrophysiker Reinhard Genzel 2020 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, extrem starke Röntgenquellen.«
Doch so weit war es noch nicht, als Wilhelm Conrad Röntgen 1879 seine Arbeit an der Universität Gießen begann. Mit seiner Ehefrau Bertha zog er zunächst in die Alicenstraße 23, bald darauf schon in ein Haus mit der Adresse Südanlage 17. Sein Gehalt betrug zunächst 5000 Euro, wie Autor Uwe Busch in dem Buch »Conrad Wilhelm Röntgen - den X-Strahlen auf der Spur« schreibt. Beruflich bewirkte er bereits 1880 den Umzug des Physikalischen Instituts aus der Frankfurter Straße in das neugebaute Universitätshauptgebäude. Sein Institut befand sich im rechten Flügel des Erdgeschosses, in dem sich heute das Dienstzimmer des JLU-Präsidenten befindet. Im Flur erinnert eine Büste an Röntgen, die von Ernst Kunst (1896-1959) im Jahr 1932 geschaffen wurde. Ein kleines Schild erläutert, dass er »in diesen Räumlichkeiten, dem damaligen Physikalischen Institut, den Rötgen-Strom entwickelte«. Auch eine Reproduktion von Röntgens Nobelpreis-Urkunde ist dort hinter Glas zu sehen.
Eine moderne, farbig leuchtende Erinnerung an den berühmten Forscher vermittelt das Street-Art-Wandgemälde der 3Steps mit zwei Porträts, das größere davon wurde um 1879 in Gießen aufgenommen. Im Vordergrund ist eine Skizze von Röntgens Experimental-Apparatur dargestellt. Außerdem sind hier Auszüge aus dem ersten Manuskript zur Entdeckung der Röntgenstrahlen zu sehen. Die Seite des Wandgemäldes, die zum Universitätshauptgebäude zeigt, symbolisiert mit der Darstellung eines Schädel-CT die Weiterentwicklung in den bildgebenden Verfahren. Der Graffiti-Schriftzug »Breaking New Paths« ist zugleich ein Appell, immer wieder neue Wege in Forschung, Lehre und Transfer zu beschreiten.
Während Röntgen für seine Arbeit in Würzburg berühmt wurde, gab es auch zuvor schon in Gießen bedeutende Entdeckungen. Er veröffentlichte laut Universität hier etwa 20 wissenschaftliche Aufsätze, darunter Arbeiten zum »Röntgenton«, in denen er zeigte, dass Gase Wärmestrahlen absorbieren, und die Arbeiten zum Nachweis des Magnetfeldes, das von einem Verschiebungsstrom erzeugt wird (»Röntgenstrom«).
Die JLU vergibt jährlich den renommierten Röntgen-Preis für Arbeiten zur strahlenphysikalischen und strahlenbiologischen Grundlagenforschung.
Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) war von 1879 bis 1888 Professor der Physik an der Universität Gießen. Später lehrte er an den Universitäten in Würzburg und München. Für die Entdeckung der nach ihm benannten Röntgenstrahlen im Physikalischen Institut der Universität Würzburg am 8. November 1895 erhielt er 1901 als Erster den Nobelpreis für Physik. Sein Foto von den Handknochen seiner Frau Anna Bertha mitsamt Ring - sichtbar gemacht durch Röntgenstrahlen - ist ein Meilenstein für ganz unterschiedliche Zweige der Wissenschaft. Die Strahlen sind unverzichtbar - längst nicht nur in der Medizin. Forscher rekonstruieren mit ihrer Hilfe jahrhundertalte Morde, mit hochintensiven Röntgenstrahlen lassen sich Viren entschlüsseln, und Röntgenteleskope im Weltraum enthüllen energiereiche, kosmische Prozesse etwa bei Schwarzen Löchern. Röntgen selbst nannte seine Entdeckung X-Strahlen, daher werden sie heute noch im Englischen als »x-rays« bezeichnet. Heute vor 100 Jahren starb Röntgen, der auf dem Alten Friedhof in Gießen begraben liegt. (red)
