1. Startseite
  2. Stadt Gießen

Der Sommer am Fluss

Erstellt: Aktualisiert:

gikult_lahn_150722_4c
Was könnte schöner sein als ein Sonntagmorgen am sommerlichen Fluss? Hier ist es die Lahn nahe Gießen. Fotos: Eisenberg, Polkowski © Eisenberg, Polkowski

Gießen. Zwei Häuser weiter hockt eine ältere Russin Tag für Tag auf dem Balkon, raucht und brüllt in ihr Handy hinein, als gelte es, die Distanz zu Kasachstan stimmlich zu überbrücken. Die heutigen Babuschkas sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Whatsapp und Flatrates sind eine echte Katastrophe. Viele Gespräche, die sich heute über Stunden hinziehen, wären früher aus Kostengründen gar nicht geführt oder rasch beendet worden.

Was eine gescheite Babuschka ist, kann man seit einer Woche im Nachbarhaus beobachten. Seit eine Drei-Generationen-Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine eingezogen ist, ist dort eine verschärfte Form der Sauberkeit eingekehrt. Jeden Vormittag kehrt die Großmutter mit zwei Enkelinnen den Hof. Nichts entgeht ihrem Besen, noch das kleinste Blättchen landet auf dem Kehrblech und wird zur Abfalltonne getragen. Sie stammen sichtlich aus einer anderen Zeitzone und sind noch nicht von Konsumismus und Handywahnsinn befallen. Manchmal sitzen sie im Hof auf einer Bank und reden miteinander. Einfach so.

Ein neuer Stadtpsychotiker

Ein neuer Stadtpsychotiker ist aufgetaucht. Laut redend zieht er die Mülltonnen, die die Müllleute nach der Leerung am Straßenrand stehengelassen haben, auf den Gehweg zurück. Ich weiß nicht, ob er das in der ganzen Stadt tut, bei uns in der Straße erledigte er diese Aufgabe jedenfalls gründlich. Offenbar kann er den Anblick der verstreut herumstehenden Tonnen nicht ertragen. Jeden seiner Schritte kommentiert er: »Das ist ja unglaublich: Da steht die gelbe Tonne hier einfach so zwischen den Autos. Die gehört doch an die Hauswand zurückgeschoben!« Zumindest für den heutigen Tag hat er eine echte Aufgabe. Wenn die Tonnen wieder in Reih und Glied an der Hauswand stehen, wendet er sich ab und dem nächsten Tonnen-Wirrwarr zu. Wie heißt es irgendwo bei Brecht: Wo kein Sinn ist, muss wenigstens Ordnung herrschen!

Was könnte schöner sein als ein Sonntagmorgen am sommerlichen Fluss? Alles ist still, die Autos stehen in den Garagen, die Leute schlafen noch. Und man riecht den Sommer. Der Himmel ist tiefblau, der Wind saust im Laub der großen Bäume, die das Flussufer säumen. Von der Brücke aus werfen wir einen ersten Blick auf den Fluss. Ein früher Ruderer treibt sein Boot mit ruhigen Schlägen flussaufwärts. Wir fahren auf unseren Rädern den Uferweg entlang und staunen und freuen uns, dass wir am Leben sind. Dass das keineswegs selbstverständlich ist, darüber haben uns die letzten Tage und Wochen belehrt.

Am Steg stellen wir die Räder ab und lassen die nackten Füße ins Wasser baumeln. Ein paar Meter neben uns hockt ein Reiher auf einem Ast und wartet geduldig auf Beute. Eine Nachtigall singt. Von weiter weg dringen die Rufe eines Kuckucks herüber. Dann steigen wir in den Fluss. U. schwimmt in die eine Richtung, ich in die andere. Zwei Schwäne ziehen mit mächtigem Brausen über uns hin. Fast gleichzeitig treffen wir wieder am Steg ein und trocknen uns ab.

Irgendwann bekommen wir Lust aufs Frühstück und fahren in die Stadt zurück. Die Glocken rufen gerade die noch verbliebenen Kirchgänger zum Gottesdienst. Sie verströmen einen strengen Geruch nach Deo oder Parfüm. Das Trinken aus der Kaffeeschale zeichnet mir einen Schnurrbart aus Milch und Kakao auf die Oberlippe. An schlechteren Tagen sieht U. in so etwas ein Zeichen einer altersbedingten Verblödung oder Verwahrlosung, heute kann sie darüber lachen. Die Mauersegler rasen kreischend um den Block, ein Spatz hockt auf der Dachrinne, tschilpt lautstark und wartet darauf, dass wir nach ihm schauen. Das scheint sich zu einem Spiel zwischen ihm und uns entwickelt zu haben. Schauen wir nach ihm, fliegt er auf und verschwindet für eine Weile. Dann kehrt er zurück und das Spiel beginnt von Neuem.

Der Fluss im Abendlicht

Neulich bin ich nach der abendlichen Tagesschau noch einmal zur Lahn geradelt. Ich setzte mich am Steg auf die Leiter und las. Der Fluss schimmerte im Abendlicht in den unterschiedlichsten Farben. Der Reiher saß an seinem Platz ein paar Meter neben mir. Ein Rotkehlchen »schwätzte« unermüdlich. Ungefähr 60 Meter weiter ist auf dem gegenüber liegenden Ufer eine kleine Lichtung, auf der sich gern russische Angler aufhalten. Sie stehen dem Alkohol wohlwollend gegenüber. An diesem Abend hatten sie ein kleines ferngesteuertes Boot mitgebracht, das sie zu Wasser ließen. Leise schnurrend zog es seine Kreise auf dem Fluss. Plötzlich merkte ich, dass sich das Boot dem Steg näherte, auf dem ich hockte. Es wurde langsamer und legte zu meinen Füßen an. Auf der Ladefläche hinter dem Führerhaus stand ein halb gefülltes Schnapsglas. Einer der Russen trat ans Ufer und rief herüber: »Ein Wodka für dich, einsamer Mann: Sa sdarówje.«

Ich stieg zwei Sprossen hinunter, ergriff das Glas vom schwankenden Boot und prostete dem Mann zu. »Vielen Dank«, rief ich hinüber und stellte das leere Glas auf das Boot zurück. »Willst du noch einen?«, wurde vom anderen Ufer her gefragt. »Danke nein, ich muss noch mit dem Rad in die Stadt zurückfahren«, erwiderte ich. Der Mann lachte. Die Begründung meiner Weigerung überzeugte ihn offenbar nicht. Mit dem Wodka im Blut ging ich noch eine kleine Runde schwimmen. Dann packte ich zusammen und schob mein Rad zur Straße.

Über der Böschung am Lahnuferweg stand ein halber Mond über der großen Birke. Auf deren Spitze saß der Falke, dessen Silhouette sich deutlich gegen den Abendhimmel abzeichnete. Der saß an dieser exponierten Stelle sicher nicht, um den Mond zu betrachten. Hier draußen treffen sich abends die Krähen, um gemeinsam zu krächzen. Eine von ihnen hat heute Abend vielleicht zum letzten Mal gekrächzt.

Seit einigen Wochen lesen U. und ich uns Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« vor. Die Wahl dieser Lektüre folgte einer spontanen Eingebung. Die Schule hatte uns die Lust auf Goethe gründlich ausgetrieben. Was die Schule sich unter den Nagel reißt und von oben verabreicht, ist in der Regel für die Schüler gestorben und büßt seine Sprengkraft ein. Thomas Bernhard hat die Verwandlung Goethes in einen Klassiker bündig zusammengefasst: Goethe sei der »philosophische Daumenlutscher der Deutschen, der ihre Seelenmarmelade abgefüllt hat in ihre Haushaltsgläser für alle Fälle«. Wir wollten endlich schauen, ob wir einen anderen Zugang zu Goethe finden könnten. Die Vorarbeit dazu hat Rüdiger Safranski geleistet, dessen fulminante Goethe-Biographie mich neugierig werden ließ. Anfänglich taten wir uns ein wenig schwer mit der Sprache, aber inzwischen fühlen wir uns in ihr zu Hause und genießen ihren ungewöhnlichen, altertümlichen Klang. Wendungen wie »des anderen Tages« oder »des andern Morgens« wandern peu à peu in unseren Sprachschatz ein.

Die Zeit der Räuberbanden

Gerade lasen wir, wie die umherziehende Gruppe von Bänkelsängern, Seiltänzern, Gauklern und Schauspielern, der Wilhelm sich angeschlossen hat, statt für das Handelsgeschäft des Vaters Schulden einzutreiben, von Räubern überfallen wurde. Die Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem Wiener Kongress war ja die Blütezeit der Räuberbanden, die überall in den deutschen Landen ihr Unwesen trieben. Als Goethe seine Wilhelm Meister-Romane schrieb, also in der 1790er Jahren, musste, wer einen Wald durchquerte, damit rechnen, von Räubern ausgeraubt und körperlich malträtiert zu werden.

Wilhelm wird von einem Schuss zwischen der Brust und dem linken Arm getroffen und von einem schweren Hieb auf den Schädel betäubt. Ein zufällig vorbeikommender Wundarzt versorgt ihn notdürftig, und man bringt ihn im nächsten Ort in einem Wirtshaus unter. Die umherziehende Schauspieltruppe zerstreut sich, und Wilhelm setzt nach seiner Genesung seine Lehr- und Wanderjahre allein fort. Geblieben sind ihm von der Gesellschaft nur die Kindfrau Mignon, das Sinnbild des romantischen Geheimnisses und der Sehnsucht nach südlichen Gefilden, und der mysteriöse Harfenspieler.

Der Gießener Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band »Zwischen Anarchismus und Populismus« im Verlag Wolfgang Polkowski erschienen ist.

gikult_goetz_290122_4c_5
gikult_goetz_290122_4c_5 © Red

Auch interessant