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»Der soziale Druck ist groß«

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Die Kommunikation über digitale Medien kennt keinen Schulschluss. © dpa/Landkreis Gießen

Schon Grundschüler besitzen heute oftmals ein eigenes Smartphone. Worauf Eltern und Lehrkräfte achten sollten, erklärt der Jugendschutzbeauftragte des Landkreises Gießen im Interview.

Gießen. Kinder und Jugendliche zählen längst als »Digital Natives«. Sie wachsen mit Handys, Tablets und Co. auf, die Nutzung digitaler Geräte gehört ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag. Schon Grundschüler besitzen heutzutage oftmals ein eigenes Smartphone. Dennoch muss es natürlich Regeln geben, um sich im virtuellen Raum gefahrlos zu bewegen. Thomas Graf ist Medienpädagoge und seit 2013 Jugendschutzbeauftragter des Landkreises Gießen. Im Interview spricht er über den verantwortungsbewussten Umgang mit Smartphones, wie Eltern und Lehrkräfte darauf vorbereiten können und was für den Notfall wichtig ist, sollte die Online-Kommunikation außer Kontrolle geraten.

Herr Graf, Sie sind Jugendschutzbeauftragter, doch Medienschutz ist ja nicht erst für Jugendliche wichtig. Ab welcher Altersklasse beginnt Ihre Arbeit?

Meine Hauptaufgabe ist die Fortbildung pädagogischer Fachkräfte, das umschließt Lehrkräfte, wie auch Fachkräfte aus allen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit. Mittlerweile bin ich schon in Kitas beratend tätig. Und auch Hebammen bemerken bereits, dass das Handy Bindungsstörungen hervorrufen kann. Ein Neugeborenes kann nur durch Augenkontakt mit der Mutter kommunizieren. Wenn dem Smartphone aber mehr Aufmerksamkeit als dem Baby zugemessen wird, ist der Augenkontakt ständig gestört. Wir haben also die komplette Palette abgedeckt. Es gibt in jedem Entwicklungsbereich von Kindern und Jugendlichen Vorteile von Medien und eben auch Nachteile.

Ab wann haben Kinder Ihrer Erfahrung nach heutzutage ein Smartphone?

Es ist tatsächlich so, dass man schon ab der 1. Klasse in der Grundschule anfängt, Kindern Smartphones in die Hand zu drücken. Der Druck, auch ein Smartphone zu haben, wird in der 2., 3., oder 4. Klasse zunehmend höher, weil immer mehr Mitschüler eines bekommen. Ich persönlich finde, dass man bis zur 5. Klasse warten sollte. Auch das ist aus meiner Sicht noch sehr früh. Aber der soziale Druck ist dann so groß, dass Kinder eventuell ausgeschlossen werden, wenn sie noch kein Smartphone haben.

Welche Probleme können durch die frühe Nutzung in der Schule entstehen?

Smartphones in der Schule sind keine technischen Geräte, sie sind in allererster Linie ein Kommunikationsmedium. Das bedeutet, dass die gesamte Sozialdynamik in der Klassenstruktur von Kommunikationskanälen, wie WhatsApp, nachhaltig beeinflusst wird. Die digitale Welt fängt nicht um 8 Uhr an und hört um 14 Uhr auf, sondern sie ist entgrenzt. Wir sind immer online, immer verfügbar und damit gibt es keinen Schulschluss mehr für den Klassenverband. Und auch keine geschützten Räume für Kinder und Jugendliche. Es ist immer ein Kampf, wer in welchem Klassenchat ist. Das heißt, die Gruppendynamik in einer Klasse wird heute ganz nachhaltig beeinflusst von digitalen Kommunikationsmitteln und deshalb muss das Thema in der Schule sein.

Wie gelingt der Einstieg?

Die Schulen sollten bereits in der Klassenfindung der 5. Klasse WhatsApp thematisieren und Chatregeln entwickeln. Am besten wäre, wenn gar kein WhatsApp genutzt wird, sondern Signal oder Threema als datensichere Tools. Aber da wir lebensweltorientiert arbeiten müssen, können wir das nicht aufzwingen. Eine Netiquette sollte mit jeder Klasse neu entwickelt werden, damit sie Verbindlichkeit behält. Diese Regeln müssen Teil der Schulordnung sein, wie auch die Handynutzung generell und entsprechende Sanktionen. Die Mediennutzung ist kein technisches, sondern ein soziales Thema. Es geht darum, den Umgang miteinander einzuüben und pädagogisch zu begleiten.

Und wenn dabei etwas schief geht?

Dann gibt es zum Beispiel heftige Fälle von Cyber-Mobbing, Hatespeech oder Sexting-Unfälle, wo also Nacktbilder in der Schule geteilt werden. Je nach Alter des Kindes handelt es sich dabei um die Verbreitung von Kinderpornografie, einem Straftatbestand dem sich viele Kinder und Jugendliche gar nicht bewusst sind. Das hat mitunter Großeinsätze der Polizei in der Schule zur Folge, bei denen Handys eingesammelt und die Daten gelöscht werden müssen. Das ist dann noch der beste Fall. Im schlimmsten Fall läuft es außer Kontrolle und das Bild kann nicht mehr rechtzeitig abgefangen werden, mit vielen Folgen - auch psychologischer Art - für die Opfer.

Wie können Lehrkräfte auf Internetphänomene, wie zum Beispiel TikTok-Trends, reagieren?

Die Lehrkräfte müssen umdenken, von der digitalen Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ausgehen und sich damit immer wieder neu beschäftigten. Da kann man nicht das Lehrbuch rausholen und sagen: »Wir machen jetzt mal Seite 84, Nummer A und B.« Sie müssen sich immer wieder neu auf Themen einlassen, die sich ständig verändern. Es ist notwendig mit dem Hintergrundwissen dieser Trends zu fragen: »Was macht das mit Euch und wie gehen wir damit um?« Weil es hier eben auch einen Schutzauftrag gibt. Für die Schulen ist vor allen Dingen wichtig, den sozialen Frieden zu bewahren und das soziale Miteinander zu begleiten. Deswegen sollte das Thema in verschiedenen Klassenstufen immer wieder angebracht werden, zum Beispiel durch den Einsatz von Peers, die Ausbildung sogenannter Medienscouts oder »Digitalen Helden«, die den jüngeren Schülern dann bereits von ihren eigenen Erfahrungen berichten.

Wie können Eltern ihre Kinder auf einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien vorbereiten?

Da ist die Frage, mit welchem Alter man es zu tun hat. Generell: Eltern haben die virtuelle Aufsichtspflicht, das ist gerichtlich festgelegt. Insofern müssen sich Eltern mit diesem Thema auseinandersetzen. In der 5. Klasse sind die Kinder zehn oder elf Jahre alt. Da ist die Sache ganz klar: Wenn ich zu Weihnachten ein Smartphone schenke und sage »Viel Spaß damit!«, dann ist das verantwortungslos. Denn das Smartphone ist in diesem Fall erst ab 18 Jahren freigegeben.

Wie geht das besser?

Eltern müssen das Handy kontrollieren, das aber auch kommunizieren. Dabei gibt es vier Dimensionen der Verantwortung: Das Freigabemanagement, das Datenschutzmanagement, das Konsummanagement und das Sicherheitsmanagement. Also alle Accounts anlegen, E-Mail-Adressen und sichere Passwörter erstellen und verwalten, Jugendschutzeinstellungen vornehmen, die Privatsphäre schützen, Bildschirmzeiten begrenzen, Firewalls und Virenschutz aktuell halten. Das ist enorm viel Arbeit und Eltern oftmals gar nicht bewusst. Wir versuchen genau das über Elternabende in der Fortbildungsreihe »Digitale Familie« zu vermitteln. Ein Smartphone ohne geeignete Einstellungen ist für Kinder nicht geeignet.

Wie sieht es mit Jugendlichen aus? Das Handy zu kontrollieren ist vermutlich irgendwann keine gute Idee mehr.

Wenn die Pubertät beginnt, entwickelt sich natürlich auch der Wunsch nach einer eigenen Intimsphäre. Wir müssen langsam von Kontrolle auf Vertrauen umschalten. Sobald man Kindern ein Smartphone gibt, ist der gemeinsame Entwurf von Mediennutzungsregeln sinnvoll. Im Internet gibt es entsprechende Verträge, die gut dafür geeignet sind. Anhand der Bausteine kann das Kind vorbereitet und anschließend besprochen werden, welche Probleme entstehen könnten. Ausgehandelt werden auch die Nutzungszeiten und wie man Zugriffe regelt. Für den Notfall sollten Eltern den Zugangscode zu den Handys ihrer jugendlichen Kinder dennoch immer kennen.

Unter der Telefonnummer 0641/9390-9391 bietet der Landkreis Gießen im Rahmen der »Digitalen Familie« montags zwischen 14 und 16 Uhr eine Jugendmedienschutzsprechstunde für Eltern an.

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