Der Spagat der Zivilcourage

Das Polizeipräsidium Mittelhessen hat sieben mutige, aber auch besonnene Bürger ausgezeichnet.
Gießen . Sieben Frauen und Männer, die im vergangenen Jahr mit Zivilcourage und persönlichem mutigen Einsatz in Mittelhessen Straftaten verhindert oder entscheidend zu deren Aufklärung beigetragen hatten, ehrte das Polizeipräsidium Mittelhessen nun in seiner »gud Stubb«, dem »Saal Florenz«. Dabei boten gleich zwei spektakuläre Fälle aus Gießen Anlass zu dieser Auszeichnung.
Die Energiewende hat auch im »Saal Florenz« ihre Spuren hinterlassen. Das Kaminfeuer kam vom Beamer und prasselte nur auf der Leinwand. Aber auch so wurde den Gästen schnell warm ums Herz. Denn dass die an diesem Tag geschilderten Straftaten und Polizeieinsätze fast alle ein »Happy End« fanden, lag vor allem am Einsatz der von Polizeipräsident Bernd Paul und dem Leiter der Einsatzabteilung, Manfred Kaletsch, Geehrten.
»Eine bürgerfreundliche Polizei braucht auch die Unterstützung durch die Bürger, durch Menschen, die uns unterstützen, die hinsehen oder uns anrufen«, betonte Paul, der nicht vergaß, darauf hinzuweisen, dass Zivilcourage immer auch ein schwieriger Spagat sei. »Schon ein kleines Messer kann einen großen Schaden anrichten. Was wir daher auf keinen Fall wollen, sind Bürger, die sich selbst in Gefahr bringen und damit die Situation verschlimmern.« Die unausgesprochene Forderung an alle Menschen laute daher: »Macht die Augen auf, helft, aber bringt Euch nicht in Gefahr.«
Unfallfahrer mit Motorrad verfolgt
Dieser Spagat ist 2022 sieben Menschen gelungen. Menschen wie die 25-jährige Lea Warnat, die in Sinn Zeugin war, als ein 92-Jähriger von zwei Tätern beraubt wurde und geistesgegenwärtig ein Foto schoss, als die Täter mit der gestohlenen EC-Karte Geld abheben wollten.
Menschen wie der Taxifahrer Recep Göksen, der registrierte, dass seine beiden älteren Kunden in Bad Nauheim offenbar Opfer eines Schockanrufes waren und gerade mehrere tausend Euro zu den Betrügern bringen wollten. Durch sein Eingreifen vereitelte Göksen nicht nur die Übergabe, sondern ersparte den Opfern auch viel Leid und finanziellen Schaden.
Menschen wie der 34-jährige Nils Hoßfeld und der 52 Jahre alte Andreas Häfner, die nach einem Raubüberfall auf eine 62-Jährige auf einem Parkplatz einen der beiden jugendlichen Täter stellen und überwältigen konnten, was nicht nur dazu führte, dass beide Täter gefasst wurden, sondern dass die Frau auch die 1300 Euro, die sie bei sich hatte, zurückbekam.
Menschen, wie Rafael Fernandez, der in Biedenkopf auf einen 80-Jährigen aufmerksam wurde, der sich offensichtlich das Leben nehmen wollte und der den Mann rechtzeitig von den Bahngleisen ziehen konnte, auf die dieser sich gelegt hatte. Und Menschen wie Luisa Parr sowie Fabian Bertsch, die beide 2022 in Gießen für Schlagzeilen sorgten.
Der 23-jährige Bertsch hatte in den frühen Morgenstunden des 12. Juni zufällig mitbekommen, dass ein Peugeot nach einem Unfall mit erhöhter Geschwindigkeit zu fliehen versuchte. Geistesgegenwärtig schwang sich der angehende Lokführer, der damals als Türsteher für Discotheken gearbeitet hatte, auf sein Motorrad, verfolgte den Tempolimits ignorierenden Flüchtenden auch über rote Ampeln hinweg, konnte dessen Fahrzeug schließlich zum Stehen bringen und den Unfallverursacher so lange festhalten, bis kurz darauf die Polizei eintraf.
Was Bertsch da noch nicht wusste: Der Mann, der alkoholisiert war, unter Drogeneinfluss stand und dessen Fahrerlaubnis gefälscht war, hatte kurz zuvor zwei Fußgänger angefahren und verletzt. Einer von ihnen starb später infolge seiner schweren Verletzungen.
Juwelierin verhindert Trickbetrug
Fabian Bertsch, der selbst noch gerochen hatte, dass der Fahrer offenbar zuletzt einen Wodka-Lemon getrunken hatte, ersparte durch sein mutiges Eingreifen der Polizei viel Arbeit. Weil der Täter direkt nach der Tat gestellt wurde, konnte ihm auch der Missbrauch von Betäubungsmitteln und ein Alkoholwert von über 1,5 Promille nachgewiesen werden.
Bereits mehrfach ihren Mut bewiesen hat die Juwelierin Luisa Parr. Sie wurde am 16. September misstrauisch, als eine 54-jährige Kundin für hunderttausend Euro Goldbarren kaufen wollte. Kurz darauf entdeckte sie, dass die verängstigt wirkende Frau von Betrügern über deren eingeschaltetes Handy überwacht wurde. Der Schockanrufer hatte sich als Staatsanwalt ausgegeben und der Frau erfolgreich weisgemacht, dass ihre Tochter in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt sei, bei dem eine schwangere Frau verletzt wurde. Luisa Parr gelang es, die Frau zu beruhigen, den Kontakt zur nichtsahnenden Tochter herzustellen und informierte anschließend die Polizei.
Diebesbande im Geschäft eingesperrt
Vor einigen Jahren hatte sie es bereits geschafft, eine ganze Diebesbande in ihrem Geschäft einzusperren. Damals war eine Familie in ihren Laden gekommen und gab vor, sich umzuschauen. Die junge Frau, die damals alleine in dem Geschäft war, merkte, dass diese »Kunden« versuchten, sie abzulenken. Als es einer Besucherin dann gelang, heimlich in die Kunden eigentlich nicht zugänglichen Büroräume vorzudringen, kam Parr der Zufall zur Hilfe. Die Frau erschrak sich vor einer im Büro als Dekoration aufgestellten Schaufensterpuppe und verriet sich so. Parr war dann reaktionsschnell genug, um den Laden zu verlassen und von außen zu verriegeln.
Wie gut Luisa Parr den Spagat der Zivilcourage beherrscht, beweist ihr dritter Zusammenstoß mit Kriminellen (»Für Juweliere gehört das zum Berufsrisiko«). Als ein Räuber sie mit einer Schusswaffe bedrohte, händigte sie ihm Bargeld und Schmuck aus, um das eigene Leben nicht zu gefährden. Aber auch dieser Überfall hatte für das Familienunternehmen ein glückliches Ende. Weil der Dieb einen Fingerabdruck auf dem Tresor hinterlassen hatte, konnte er später in Österreich als Teil einer international operierenden Bande gefasst und verurteilt werden.