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»Deutschland, das ist nicht genug!«

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Schon die Kleinsten zeigten sich als große Patrioten. © Ingo Berghöfer

Der Berliner Platz war gestern Blau und Gelb - Ein Aktionsbündnis von Exil-Ukrainern fordert mehr Unterstützung für ihr Heimatland.

Gießen. Die meisten Menschen in diesem Land denken nach 155 Tagen Krieg in der Ukraine wohl zunächst einmal an stetig steigende Preise und im Winter drohende kalte Wohnungen. Die Menschen, die seit Putins Überfall auf das Nachbarland noch ganz andere Sorgen haben, erinnerten am Freitag mit einer Demonstration auf dem Berliner Platz an das Leid der Ukrainer, ob nun in den Schützengräben an der Front, im durch Raketen und Luftangriffe gefährdeten Hinterland oder im Exil.

Dank und Kritik

Es waren vor allem Frauen und Kinder, die sich zunächst im Nieselregen, dann aber doch noch im Schein der Abendsonne vor dem Rathaus versammelt hatten. Dort dankten Vertreter Gießener und Marburger Initiativgruppen, die sich nach dem Einmarsch in die Ukraine gebildet haben, Deutschland für die große humanitäre Unterstützung. Mehr aber noch kritisierten sie die zögerliche militärische Unterstützung der Ukraine durch die deutsche Bundesregierung. »Deutschland, das ist nicht genug!«, brachte Sprecherin Polina Turiyanskaya, die gemeinsam mit ihrem Mann Pavlo die Demonstration organisiert hatte, den Unmut, aber auch die wachsende Verzweiflung der in Gießen lebenden Ukrainer angesichts der Entwicklung in ihrer Heimat auf den Punkt.

In einer vorab veröffentlichten Presseerklärung forderte das Bündnis, dass die Abwendung Russlands von der Demokratie und Putins Kriegserklärung nun endlich Folgen für den Aggressor haben müssten. Die bisherigen Sanktionen müssten verschärft und die Waffenlieferungen an die Ukraine ausgeweitet werden. Ein vollkommener Verzicht auf russisches Gas sei dabei unumgänglich.

Die einzigen Vertreter Gießener Parteien, die während der rund 90-minütigen, durch Tanzdarbietungen und patriotische Gesänge aufgelockerten Demo zum Mikrofon griffen, waren Vertreter der Grünen und der FDP beziehungsweise deren Jugendorganisationen. »Die Gesellschaft in diesem Land wird schnell müde, obwohl wir eigentlich wissen, dass wir durchhalten müssen«, klagte der Stadtverordnete und Mitglied der Grünen Jugend, Fabian Mirold-Stroh. »Was sind kalte Wohnungen gegen Hunderte vom russischen Staat ermordete Kinder? Ich begreife das nicht.« Und er fügte hinzu: »Wenn es unangenehm wird, fangen wir in diesem Land gerne an, uns zu belügen, um unser falsches Handeln zu legitimieren.«

Noch deutlicher wurde Nikolai Davydov von den Jungen Liberalen, der unter dem Beifall der Zuhörer erklärte, dass wir in Deutschland das große Glück hätten, den Preis für Putins Krieg in Papier zahlen zu können, während ihn die Ukraine in Blut entrichten müsste. Davydov, der schon als Säugling nach Deutschland gekommen war, hatte zuvor angekündigt, seine Rede auf Deutsch und Russisch zu halten, da er selbst kein Ukrainisch spreche, aber »ich lasse mir meine Muttersprache von Putin nicht verbieten«.

Pathos, aber auch Verzweiflung sprachen aus den Worten der Veranstalterin Polina Turiyanskaya. Sie erinnerte daran, dass der Krieg in der Ukraine seit nunmehr 155 Tagen tobe. »Das waren fünf Monate voller Hoffnung, aber immer wieder auch der Hoffnungslosigkeit.« Die Bundesregierung habe es in diesen 155 Tagen gerade einmal geschafft, sieben Panzerhaubitzen in die Ukraine zu liefern. Zwar sollten deutlich mehr Panzer in einem Jahr geliefert werden, sagte Turiyanskaya, aber »die Ukraine hat dieses Jahr nicht mehr«.

Zur Not Rattengift

Ihre Landsleute würden aber auch ohne deutsche Waffen gegen »Putins faschistisches Regime« kämpfen, zur Not auch mit »unseren Zähnen, mit Heugabeln oder mit Rattengift«, denn es sei allemal besser, sich als freier Mensch vor einen russischen Panzer zu werfen, als mundtot unter der Okkupation zu leben.

Das Bündnis aus der Ukrainische Gemeinde Gießen, BRUKS Marburg und »Gemeinsam Stark Marburg« kündigte im Anschluss an die Kundgebung an, dem Auftakt weitere Demonstrationen folgen zu lassen. Bereits am heutigen Samstag findet eine Großdemonstration exilukrainischer Gruppen in Frankfurt statt.

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Tanzen in der Tarnjacke. Auch kulturelle Darbietungen gehörten zur Demonstration von Exilukrainern auf dem Berliner Platz. Fotos: Berghöfer © Berghöfer

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