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Die Ängste des Arbeiterkindes

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Deniz Ode stellte im Gespräch mit LZG-Moderatorin Sandra Binnert ihren Roman »Streulicht« vor. Foto: Schultz © Schultz

Gießen. Eine junge Frankfurter Autorin war jüngster Gast des Literarischen Zentrums Gießen (LZG). Deniz Ohde las aus ihrem vielgelobten Debütroman »Streulicht«, in dem eine Arbeitertochter ihren Weg im Leben sucht. Der Ulenspiegel war vollbesetzt mit neugierigen Leseratten. Die Veranstaltung war Teil des Literaturevents »Frankfurt liest ein Buch - Gießen liest mit«.

Sandra Binnert vom LZG-Vorstand moderierte den Abend sensibel und humorvoll.

Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt, wuchs im Arbeiterviertel Sindlingen auf und schloss ihr Germanistikstudium 2018 in Leipzig ab, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Ihren Durchbruch als Schriftstellerin hatte sie mit ihrem klug komponierten Debütroman »Streulicht«, der im Sommer 2020 bei Suhrkamp veröffentlicht wurde.

Schmutzige Straßen, Fabrikschlote sowie die aus allen Schränken überquellende Wohnung ihrer Eltern - und überall der Geruch der Fabrik, in der ihr Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizte: diese Erzählerin hat keine goldenen Erinnerungen an die Kindheit. »Der Roman wirkt fast autobiografisch, so klar wird alles beschrieben,« meinte Binnert eingangs, »es ist zugleich ein Bildungs- und ein Coming-of-age-Roman.« »Das hängt mit meiner Sichtweise der Welt zusammen«, erläuterte Ohde. Sie merke sich alles Erlebte und füge es zu einem fiktionalen Teppich zusammen.

Sie schildert im Buch anschaulich, wie die Erzählerin lernt, zu Hause unauffällig zu bleiben, um dem Zorn des Vaters zu entgehen und zugleich in der Schule mit dieser Haltung scheitert: sie bleibt unsichtbar. Als sympathische Figur erweist sich die Roman-Mutter. Die hat nämlich die Dschinns aus der Geisterwelt darum gebeten, ihre Familie zu beschützen, und deshalb kann ihnen auch nie etwas passieren. Nachts halten die Dschinns unsichtbar unter dem Bett Wache, ein höchst tröstlicher magischer Gedanke.

Später fühlt sie sich der Forderung des Lehrers - »Ihr seid die Elite« - nicht gewachsen und scheitert fast im Gymnasium. Sie besteht aber dann doch das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, zieht weg und geht an die Uni. Doch auch dort verfolgt sie ihre soziale Herkunft, und die Angst, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, bleibt bestehen.

Deniz Ohde las etwas eintönig, was allerdings gut zu dem beschriebenen Ambiente und den Erlebnissen passt. So vermittelt sich die Persönlichkeit der Ich-Erzählerin direkt und für die Zuhörer nahezu greifbar, ein paar dieser Aspekte haben bestimmt viele Menschen ebenfalls erlebt.

Als zwei Schulfreunde heiraten, kehrt die Erzählerin in ihre Heimatstadt zurück und erinnert sich an ihre Kindheit: An die Mutter, die in der Enge der Arbeiterwohnung zu ersticken drohte, kurzerhand die Koffer packte und die Tochter beim alkoholabhängigen Vater zurückließ. An den frühen Schulabbruch und die Scham, die damit einherging. Und an die Angst, als Arbeiterkind nicht zu bestehen, ihr generelles Handicap.

Und während sie noch einmal die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis der Hausrat aus allen Schränken quoll. Doch das Mädchen überwindet alle Widerstände. Auf den frühen Schulabbruch folgte die erfolgreiche Anstrengung, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen, dann sogar als Beste: die Abendschule war endlich ein Ort der Ermutigung für die Erzählerin. Die ist eigentlich eine starke Person, allerdings bemerkt sie es vor lauter Unsicherheit nicht. Nein, es sei kein autobiografischer Roman, sagte Ohde.

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