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Die alte Angst vor dem Nestbeschmutzer

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Von: Ingo Berghöfer

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Benjamin Ortmeyer Bild: Privat © Red

Benjamin Ortmeyer referiert im DGB-Haus über Rolle der Lehrer im »Dritten Reich«.

Gießen . Niemand, außer den Eltern, ist so sehr prägend für die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen wie dessen Lehrer. Deshalb ist dieser Beruf mit einer hohen Verantwortung verbunden, der Lehrer aber nicht immer gerecht geworden sind. Im Mai jährt sich zum 90. Mal die Gleichschaltung der deutschen Lehrerschaft im »Dritten Reich«. Große Teile der alten Vereine der Lehrkräfte waren zu diesem Zeitpunkt dem NSLB, dem nationalsozialistischen Lehrerbund, beigetreten.

Worin bestand die Aktivität der vom Nazi-Staat dirigierten Lehrkräfte in den Schulen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Prof. Benjamin Ortmeyer zunächst als Lehrer und später als Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt seit vielen Jahren. Auch untersuchte er zum Verdruss etlicher Vorstandsmitglieder der Lehrergewerkschaft GEW deren Rolle nach 1945, da diese im Wesentlichen aus Personen bestand, die in unterschiedlichem Ausmaß dem Nazi-Regime gedient hatten, allen voran der GEW-Gründungsvorsitzende Max Träger. Die GEW übernahm auch das Vermögen des NLSB und seine Immobilien.

Über die Notwendigkeit, die NS-Pädagogik im Zusammenspiel mit der NS-Ideologie und den realen Naziverbrechen und schließlich auch im Zusammenhang mit einer Analyse der heutigen Lage im Lehrerverband einzuschätzen, referiert Ortmeyer auf Einladung des GEW-Kreisverbandes Gießen, der GEW-Studis und des Asta am heutigen Mittwoch um 18 Uhr im Dachsaal des DGB Hauses in der Walltorstraße 17 .

Wir haben vorab schon einmal ein Interview mit dem Referenten geführt.

Eigentlich gilt die GEW doch als eine Gewerkschaft, die sich dezidiert links positioniert. Warum tut sich der Vorstand so schwer damit, eine kritischere Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit des GEW-Gründungsvorsitzenden einzunehmen?

Es gibt eine Art Ehrenkodex, dass das »eigene Nest« nicht beschmutzt werden darf. Dazu kommt, dass die Spitzenfunktionäre (außer vor vielen Jahren Dieter Wunder) die Aufdeckung der NS-Vergangenheit großer Teile der GEW-Mitglieder nach 1945 und dabei gerade auch ihrer Spitzenfunktionäre so auffassen, dass auch sie kritisiert werden. Warum? Nun, es ist doch klar, dass sie nicht geforscht haben, desinteressiert waren und dass sie auch vertuscht haben. Es ist mehrstufig wie in der katholischen Kirche, bei allem linken Image ist die GEW auch eine »normale Organisation« mit all den Chefallüren und Eitelkeiten. Da wird auch nach oben gebuckelt und nach unten getreten, etwa gegen die GEW-Studis, die die NS-Vergangenheit der GEW beleuchtet hatten.

War Max Traeger Täter oder Mitläufer, und woran machen Sie das fest?

Er war ein klassischer NS-Kollaborateur, auf seine Karriere bedacht wie viele Deutsch-Nationalen 1933. Arrogant fühlte er sich den primitiven Nazi-Schlägern überlegen, half aber in Hamburg fleißig mit, die alten Lehrervereine in den NS-Lehrerbund (NSLB) zu überführen. Da trat er am 1. Mai 1933 schon ein. Das waren Taten, von denen wir wissen. Und er war beteiligt an der Arisierung eines Hauses in Hamburg in der Nazi-Zeit. Der NSLB hatte es dem jüdischen Besitzer abgerungen, und Traeger bestritt dies und reklamierte nach 1945 sogar dieses Haus für die GEW. Mit Betrügereien und Falschaussagen von alten Nazi-Funktionären erreichte er, dass das Haus GEW-Eigentum wurde. Was er als Lehrer in der Schule so getrieben hat, wissen wir nicht, die Akten sind verschwunden.

Hat sich Traeger nicht auch Verdienste als Gründungsmitglied und erster Vorsitzender der GEW erworben, und wiegen die nicht schwerer als sein Verhalten im Dritten Reich?

Das Vermögen des finanzstarken NS-Lehrerbundes - das gilt als sein Verdienst - hat er für den Aufbau der GEW reklamiert und weitgehend erhalten. Nicht nur das eine Haus in Hamburg. Ansonsten hat er sich den Alliierten angepasst, war Teil der damals - noch mehr als heute - reaktionäreren FDP, die wie so viele einen »Schlussstrich« gefordert hatten, und das bereits im Bundestagswahlkampf 1949. Er war ein Bürokrat, der sich der aktuellen Lage angepasst hat - und da bot sich die Mitgliedschaft im DGB an, zumal über den DGB auch die Gelder des NSLB an die GEW transferiert werden konnten - so als wären die alten Lehrervereine »Gewerkschaften« gewesen, was sie nie waren.

97 Prozent aller Lehrer der Weimarer Republik wechselten später in den NSLB. Sind diese Zahlen vergleichbar mit denen anderer Berufe oder hatten Lehrer eine höhere Affinität zum Regime als der Durchschnittsdeutsche?

Lehrkräfte waren Beamte. Sie waren aus ihrer autoritären Tradition heraus und als weitgehend deutsch-chauvinistische Personen leicht zu gewinnen. Die jüdischen und linken Lehrkräfte wurden 1933 sehr rasch rausgeworfen. Das gab es so in den Industriebetrieben nicht. Merkwürdigerweise war wohl nur in der Ärzteschaft der Anteil der NSDAP- Mitglieder höher als bei den Lehrkräften. Bei den Lehrkräften waren mehr als Hunderttausend, also ein Drittel aller Lehrkräfte, Mitglied der NSDAP. Umso wichtiger wäre es nach 1945 und in den folgenden Jahrzehnten gewesen, dass eine Gewerkschaft nicht den alten Nazi-Lehrkräften Rechtsschutz gab. Nötig wäre dagegen gewesen, durch Aufklärung und organisatorisch massiv gegen alte Nazis in der GEW vorzugehen. Das geschah nicht. Selbst in den letzten 20 Jahren musste noch gekämpft werden, dass die nach Max Traeger benannte Stiftung endlich umbenannt wird. Und heute ist an den Universitäten immer noch in der Bildung und Ausbildung der Lehrkräfte die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der NS-Pädagogik nicht obligatorisch - ein übersehener Skandal der Bundesrepublik Deutschland!

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