Die brennt sich ins Gedächtnis

Taugt für Tee, als Suppengemüse und auch als Liebestrank: die Brennnessel. Das vermeintliche Unkraut ist die Heilpflanze des Jahres 2022.
Gießen. Es juckt, es brennt: Bereits in seiner Kindheit lernt man die unscheinbare Große Brennnessel (Urtica dioica), Heilpflanze 2022, kennen. Allerdings nicht als Heilpflanze. Dank der unpädagogischen, aber äußerst effektiven, schmerzenden Lektion dieses unbeliebten Stickstoffanzeigers bleibt der Name der Lehrerin aus der Natur für den Rest des Lebens im Gedächtnis haften, während es uns oft Probleme macht, die Rufnamen so manch spektakulärer Blumen zu erinnern. So können mehr Menschen die unauffällige Brennnessel benennen als die üppige Pfingstrose.
Auch wenn wir uns in unserem Leben oft genug in die inzwischen sprichwörtlichen Nesseln setzen, meiden wir das Original in der Natur wie der Teufel das Weihwasser. Ursache ist das Abwehrsystem der schon immer gerne als Futter für Hühnerküken, in schlechten Zeiten auch als Suppengemüse großer Bevölkerungskreise und in guten Zeiten als Zeit-Geist-Wildkraut alternativer Kochkunst genutzten, als klassisches Unkraut bekannten und verrufenen Pflanze.
Hightech-Produkt der Natur
Das bereits mit dem bloßen Auge erkennbare Verteidigungssystem wird aus fast vier Millimeter langen gläsern wirkenden, auf Stängeln und Blattrippen angeordneten Haaren gebildet, die aus einer einzigen Zelle bestehen. Aber erst das Mikroskop und eine chemische Analyse zeigen, wie eine Symbiose aus Einfachheit und Raffinesse zu einem Natur-Hightech-Produkt führt: Das lange, sich verschmälernde Haar endet in einem seitlich abgeknickten Köpfchen. Unterhalb des Köpfchens ist die Zellwand nicht nur besonders dünn, sondern durch Kieselsäureeinlagerungen auch noch sehr spröde.
An dieser Sollbruchstelle bricht das Köpfchen bereits bei der leichtesten Berührung ab. Übrig bleibt ein scharfes, spitzes Gebilde, das wie die Kanüle einer Spritze in die Haut eindringt. Da die übrigen Teile des Haares durch Kalkeinlagerungen versteift sind, mit Ausnahme der elastischen Basis, wird diese bei Berührung zusammengedrückt und ihr Inhalt über die Bruchstelle ausgestoßen. Zweifellos ein Meisterstück, das in der Erfinderstube ihrer Majestät für den Meisterspion James Bond hätte entstanden sein können, aber ein Spitzenprodukt der Bastelstube der Natur ist. Und die setzt noch eins oben drauf: Die Pflanze erzeugt nämlich zur Abwehr Chemikalien, die in den Stoffwechsel der Säugetiere eingreifen.
In dem Giftcocktail der Brennhaare hat man bisher neben anderen Substanzen Histamin und Acetylcholin identifizieren können. Beide Stoffe kommen auch in unserem Körper vor. Das Acetylcholin spielt bei der Tätigkeit der Nervenzelle eine Rolle. Das Histamin beeinflusst die lokale Durchblutung und ist für die allergischen Reaktionen verantwortlich. Aber auch die allseits abwehrbereite Brennnessel ist sich ihres Lebens nicht sicher. Gibt es doch auch Lebewesen, die sich durch die Gifthaare der Brennnessel nicht abschrecken lassen, die Pflanze zu fressen. Für eine ganze Reihe von Raupen unserer einheimischen Schmetterlinge sind Brennnesseln eine Leibspeise, ohne die sie nicht existieren können. So liefern Brennnesseln und Schmetterlingsraupen wieder eine kostenlose Lehrstunde: Kein Abwehrsystem ist so wirkungsvoll, dass es nicht unterlaufen wird.
Hilfe bei Rheuma und Hautproblemen
Die vier Seiten, die Lonicerus 1679 in seinem »Kreuterbuch« den Brennnesseln widmet, belegen ihre uralte Bedeutung als Heilpflanze. Ihre Wirkstoffe zeichnen sich durch antioxidative und entzündungshemmende Eigenschaften aus. Klassischen Einsatz finden Brennnesselprodukte bei rheumatischen Erkrankungen, Problemen mit den Ausscheidungsorganen und der Prostata. Aber auch verschieden Hautbeschwerden können damit kuriert werden. Bei den Anwendungen kann man wählen zwischen Auspeitschungen mit frischen Brennnesseln über den traditionellen Tee bis zum hippen Smoothie.
Aber von der Brennnessel lernen, heißt, auch wieder lieben lernen. Jedenfalls wenn man Lonicerus glaubt. Dort heißt es über die Blätter: « reitzet zum Beyschlaff an.«
Der römische Dichter Ovid beschreibt in seiner Ars amatoria (Liebeskunst) wie man die Samen des vermeintlichen Gartenunkrauts zur Herstellung eines Liebestrankes nutzen kann. Vielleicht erlebt die Brennnessel nicht nur eine Renaissance als Faserlieferant, Heil- und Wildkraut, sondern wird durch ihre die Liebe fördernden Fähigkeiten und den durch die Pflanze hervorgerufenen Zweifel an Abwehrsystemen zu einem neuen Symbol einer längst verloren gegangenen Losung der Vergangenheit: Make love not war.

