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Die Erinnerung lebendig halten

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Stolpersteine an der Liebigstraße 33. Foto: Schwaeppe © Schwaeppe

Zum Gedenken an ehemalige jüdische Mitbürger sind in Gießen an vier Standorten elf weitere Stolpersteine verlegt worden. Sie wurden von den Nazis vertrieben oder ermordet.

Gießen. Jeder Handgriff sitzt bei Gunter Demnig: In wenigen Minuten hat der 75-jährige Künstler die vier Stolpersteine in den Bürgersteig vor dem Haus Nummer 32 in der Walltorstraße verbaut. Die vier Betonsteine mit Messingoberfläche erinnern an Mitglieder der jüdischen Familie Wohlgeruch, die in Gießen lebte und von den Nationalsozialisten ermordet oder vertrieben wurde.

Seit 27 Jahren setzt Demnig diese kleinen Mahnmale in ganz Europa zur Erinnerung an die Opfer der NS-Diktatur in Straßen und Bürgersteige ein. In Gießen ist es die mittlerweile zehnte Verlegung, bei der insgesamt elf weitere Stolpersteine in der Liebigstraße und der Walltorstraße hinzukommen. Inzwischen erinnern in der Universitätsstadt 179 Steine an 179 jüdische Leben und Schicksale.

Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher dankte besonders der Koordinierungsgruppe Stolpersteine, die sich seit 2006 um diese wichtige und besondere Form der Erinnerungskultur in Gießen verdient gemacht hat: Christel Buseck, Monika Graulich und Ursula Schroeter sind Mitglieder der ersten Stunde. Seit drei Jahren unterstützt sie dabei Pfarrer Dr. Gabriel Brand in Nachfolge von Pfarrer Klaus Weißgerber. Das Gießener Tiefbauamt bereitet für jeden Stein die Verlegeorte vor.

Bechers Dank galt auch den Jugendlichen der Ricarda-Huch-Schule (RHS), die regelmäßig das Gedenken an die vielen Gießener Opfer der Nationalsozialisten wachhalten und die Geschichte ehemaliger Schüler aufarbeiten, die seinerzeit die Schillerschule (jetzt RHS) besuchten. In der Walltorstraße hatte diesmal die Klasse 7b das Gedenken gemeinsam mit ihren Lehrern Paul Lambeck, Alexandra Keller und Christian Schmidt vorbereitet. Sie trugen Texte zu den Schicksalen der Familie Wohlgeruch sowie von Rosie und Rosa Irmgard Baer vor.

Auch zwei Nachfahren der Familie Wohlgeruch, Aliza Cohen-Mushlin aus Jerusalem und Peter Schuller aus Edinburgh waren anwesend. Am Vortag hatten sie bereits an der »Ricarda« von ihrer Familiengeschichte erzählt (der Anzeiger berichtete). Die Verlegung der Stolpersteine war für sie ein sichtbar bewegender Moment. Diese Art der Erinnerung an ihre Vorfahren sei ein tolles Konzept, wie Peter Schuller im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern sagte. »Es ist eine gute Möglichkeit, über Geschichte zu stolpern und zugleich ein guter Anlass, sich damit auseinanderzusetzen, was damals passiert ist«, verdeutlichte auch Frank-Tilo Becher. Die Erinnerung wach und lebendig zu halten, sei bitter nötig.

Flucht nach England

Etwa an Paula Wohlgeruch, geborene Russ. Sie kam am 6. Februar 1899 in Kaluschyn als zweite Tochter der Eheleute Mendel und Serka Ruß (geb. Liebermann) zur Welt. Ihre Schwester Sara, die Mutter von Aliza Cohen-Mushlin, wurde am 28. Juni 1892 geboren. Die Familie reiste im Dezember 1914 von Frankfurt/Main nach Gießen. Zunächst wohnten sie in der Wettergasse 7. Paula zog dann im Dezember 1920 nach Warschau und kehrte nach dem Tod des Vaters im Juni 1921 mit ihrem späteren Mann, dem Uhrmacher Josef Wohlgeruch, nach Gießen zurück. Sie bekamen die Töchter Henny und Sonja. Ab Dezember 1933 wohnte Familie Wohlgeruch in der Walltorstraße 42 - heute Walltorstraße 30. Am 28. Oktober 1938 wurde Paula mit ihrer jüngeren Tochter Sonja nach Warschau ausgewiesen und später im dortigen Ghetto ermordet. Josef Wohlgeruch gelang mit der älteren Tochter Henny 1939 die Flucht nach England.

Ein Stolperstein vor der heutigen Hausnummer 30 erinnert an Rosa Baer, die am 2. August 1929 als uneheliches Kind auf die Welt kam. Sie wohnte mit ihrer Mutter Rosie Baer in der Walltorstraße 38, später Walltorstraße 42, in einem Ghettohaus.

In Treblinka ermordet

Als Rosa die Schillerschule verließ, geschah dies nicht freiwillig. Zusammen mit etlichen anderen jüdischen Schülerinnen wurde sie zwangsweise von der Schule verwiesen. Rosa Baer wurde am 30. September 1942 wie ihre Mutter Rosie über Darmstadt vermutlich nach Treblinka deportiert und ermordet. Rosas Großvater Max Salomon überlebte als Einziger der Familie den Holocaust. Er wurde nach Theresienstadt verschleppt, befreit und kam nach Gießen zurück.

Vor dem Haus in der Liebigstraße 33 erinnern nun drei Stolpersteine an Rosa Ettlinger, ihren Bruder Gustav Sternberg sowie Helene Hammerschlag. Rosa Ettlinger wurde am 24. September 1884 als drittes Kind der Eheleute Salomon und Mathilde Sternberg (geborene Kann) in Weilburg geboren. Sie heiratete Emil Ettlinger, der im Ersten Weltkrieg in Frankreich getötet wurde. Im Jahr 1930 kehrte Rosa Ettlinger in ihr Elternhaus in der Liebigstraße 33 zurück. Im September 1942 wurde sie nach Polen deportiert und ermordet. Ihren Bruder Gustav Sternberg, der Bankbeamter war und 1940 Zwangsarbeit in einer Gießener Baufirma leisten musste, ereilte das gleiche Schicksal. Auch ihre Schwester Dora wurde deportiert und ermordet. Rosas anderen drei Brüdern und ihrem Sohn gelang dagegen die Flucht in die USA.

An Helene Hammerschlag erinnert ein weiterer Stein an der Liebigstraße 33. Sie verbrachte ihre Kindheit dort. Am 31. Mai 1912 heiratete sie Hermann Hammerschlag. Im Jahr 1942 wurde sie von der Gestapo verhaftet und nach Ravensbrück verbracht. Nur wenige Monate später starb sie in Auschwitz. An der Liebigstraße 13 liegen zudem Stolpersteine für Ludwig und Berta Bella Rosenthal, die beide in Theresienstadt ihr Leben verloren.

Gunter Demnig wird weitermachen. Rund 95 000 Steine geben in Deutschland und Europa den zahlreichen Opfern des Nazi-Regimes ihre Namen und ihre Geschichte zurück - und diese Geschichten sind auch in Gießen noch nicht zu Ende erzählt.

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Bei der Verlegung in der Walltorstraße erinnern zahlreiche Menschen an die Opfer des Nazi-Regimes. Foto: Schwaeppe © Schwaeppe

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