Die erste Frau in 417 Jahren

Antje Mühlhans war fast 20 Jahre in der Schulleitung des LLG in Gießen. Im Interview spricht sie über disziplinierter gewordene Schüler, besondere Projekte sowie die kurze Episode des »Turbo-Abiturs«.
Gießen . Das traditionsreiche Landgraf-Ludwigs-Gymnasium (LLG) hat bereits 417 Jahre auf dem Buckel, auch wenn es damals bei der Gründung noch anders hieß. Umso bemerkenswerter, dass Antje Mühlhans die erste Frau war, die in die Schulleitung rückte, zumal als Naturwissenschaftlerin. Ab 2004 übernahm sie - bis 2005 zunächst kommissarisch - die Aufgabe der Stellvertreterin, seit 2012 steht sie an der Spitze des LLG, nach einer zuvor dreijährigen kommissarischen Phase. »Bereut habe ich es nie, diesen wunderbaren Beruf gewählt zu haben««, betont Mühlhans anlässlich ihres nahenden Ruhestands. Im Interview spricht sie außerdem über disziplinierter gewordene Schüler, Projekte, auf die sie besonders stolz ist, sowie die kurze Episode des »Turbo-Abiturs«.
Waren Sie eigentlich eine gute Schülerin?
Ich muss gestehen, ja. Ich war auch gerne Schülerin. Der Entschluss, Lehrerin werden zu wollen, war daher früh geboren. Bereut habe ich es nie, diesen wunderbaren Beruf gewählt zu haben.
Was hat für Sie den Reiz ausgemacht?
Das waren der Kontakt und die Auseinandersetzung mit den Schülerinnen und Schülern. Keine Stunde verläuft gleich, selbst wenn in den Jahrgangsstufen ähnliche Themen behandelt werden.
Worauf haben Sie dabei besonderen Wert gelegt?
Grundlage für erfolgreiches Lernen ist eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung, die dem Individuum zugewandt, aber trotzdem von einer professionellen Distanz getragen sein sollte. Außerdem ist es mir ein Anliegen gewesen, meinen Schülern fachlich eine hervorragende Ausbildung zu bieten. Voraussetzung dafür ist, die Freude und Begeisterung an den eigenen Fächern - bei mir waren das Mathe, Physik und Informatik - zu transportieren. Das ist, glaube ich, gelungen. Ich habe immer wahnsinnig gerne unterrichtet.
Und welche Prioritäten haben Sie in der Schulleitung gesetzt?
Mir war wichtig, dass wir unser LLG in vielen Sparten weiterentwickeln. Das kann niemand alleine, dafür braucht es großartige Kolleginnen und Kollegen, die mit anpacken, die weit über das normale Maß hinaus arbeiten, die hinter den Ideen stehen, die ich verfolgt habe, die wie ich für die Sache brennen. Wenn das Herz dabei ist, bin ich sicher, kann alles funktionieren. Das haben wir überwiegend geschafft.
Am LLG gilt das Leitbild »Raum für Entfaltung - Zeit für Bildung«. Wie wird das im schulischen Alltag mit Inhalt gefüllt?
Uns geht es zum einen darum, den Schülern eine exzellente Allgemeinbildung zu vermitteln, sie zu befähigen, dass sie später studieren oder einen Beruf ausüben können, in dem sie Dinge voranbringen. Zum anderen haben wir natürlich im Blick, ihre Persönlichkeit zu stärken. Immerhin begleiten wir sie auf ihrem Lebensweg vom 5. bis zum 13. Schuljahr. Wir wollen sie zu kritischen und selbstbewussten Menschen erziehen, die sich in der Gesellschaft zurechtfinden und teamfähig sind. Das haben wir als LLG als familiäre Lernumgebung bezeichnet.
Worauf sind Sie am meisten stolz?
Stolz bin ich auf unser Kollegium, das maßgeblich dazu beigetragen hat, die Schülerzahl immens zu steigern. Ich bin auch stolz auf die Unterrichtsentwicklung, die sich in den vergangenen Jahren im digitalen Bereich vollzogen hat. Gerade eine in jedem Raum gleich gute digitale Ausstattung ist mir wichtig, damit nicht die Digitalisierung, sondern die Lerninhalte im Vordergrund stehen. Und ich bin stolz, dass wir eine Förderung aufgebaut haben - für schwache und für begabte Kinder und Jugendliche. Ich bin stolz auf die Wettbewerbskultur, die wir auf einem hohen Niveau halten können, ebenso auf unser großes Musik- und Theaterangebot. Das eröffnet jedem die Chance, sich in verschiedenen Richtungen ausprobieren zu können.
Und baulich hat sich ja auch einiges verändert
Ja, vor allem ist da unser Bibliotheksneubau zu nennen. Die ersten Ideen haben wir gesammelt, da war ich noch stellvertretende Schulleiterin, also vor zehn bis 15 Jahren. Das zeigt, wie lange so etwas dauert. Stehen sollte eigentlich schon der Klassenraumtrakt, zumindest ist er in der Planung. Traurig bin ich darüber, dass unsere zweite, dringend benötigte Turnhalle gerade aus der Förderung für die »Hessenkasse« gestrichen worden ist. Das bringt mich zu einem weiteren Aspekt, der mich wirklich stolz macht: unsere Sponsoring-Projekte. Viele Dinge, die uns der Schulträger nicht finanzieren konnte, haben wir selbst auf den Weg gebracht - sei es der Sportplatz, unser Forschungsraum oder jetzt die Solaranlage auf Haus D. Wir haben weit über 300 000 Euro über Ehemalige, Firmen und sonstige Unterstützer einwerben können.
Was hat bei Ihnen auch persönlich Spuren hinterlassen?
Am meisten berührt hat mich, wenn wir Schülerinnen und Schüler beerdigen mussten, wenn junge Menschen, die eigentlich noch alles vor sich hatten, bei Unfällen oder durch Krankheit verstorben sind und wir als Schulgemeinde gemeinsam Abschied genommen haben.
In Ihre Dienstzeit fällt der vorübergehende Wechsel von G9 zu G8. Wie beurteilen Sie diese Episode?
Wir waren immer der Meinung, dass Bildung Zeit braucht. Aus unserer Sicht ist es nicht nötig gewesen, dieses eine Jahr zu kürzen. Nur in der Schule ist es möglich, sich Bildung in dieser Breite anzueignen, später im Beruf verengt sich das zunehmend. Die Auswirkungen von G8 haben wir unmittelbar gespürt: Es haben sich weniger Schüler für das LLG angemeldet, Eltern hatten Angst, ihre Kinder könnten überfordert werden. Weiterhin ließ sich beobachten, dass die dritte Fremdsprache seltener gewählt und das AG-Angebot nicht mehr ausreichend wahrgenommen wurde. Zur Schule gehören ja nicht nur die Fächer, sondern auch das Gesamtangebot. Deshalb sind wir mit 100-prozentiger Zustimmung in allen Gremien zu G9 zurückgekehrt.
Ist das »Turbo-Abi« also gescheitert?
Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann. Zunächst erschien es machbar, in der Mittelstufe ein Jahr einzusparen. Peu à peu ist jedoch die Stundenzahl nach oben verschoben worden, die Jahrgangsstufen 9 und 10 hatten plötzlich bis zu viermal pro Woche nachmittags Unterricht. Bedenkt man, dass noch Hausaufgaben erledigt und Referate vorbereitet werden sollten, war das unheimlich viel. Wenn wir in den Osten Deutschlands schauen, ist es normal, die jungen Leute in acht Jahren zum Abitur zu führen. Aber vielleicht ist dort eine andere Organisationsform gefunden worden, die das besser leistet.
Wie sehr hat sich das LLG, hat sich Schule allgemein, in all den Jahren gewandelt?
Schule ist permanent im Wandel, wenn das nicht so wäre, müsste ich mir Vorwürfe machen, stehengeblieben zu sein. Schule bereitet fürs Leben vor, für den beruflichen und den sozialen Bereich. Große Veränderungen haben wir zum Beispiel bei der Digitalisierung erlebt. Damit meine ich nicht nur die Ausstattung mit digitalen Medien, sondern auch die Fähigkeit, in der Informationsflut nicht zu ertrinken, ordentlich zu recherchieren, Informationen zu sichten, zu gewichten und von Fake-News abzugrenzen. Trotz der Schnelligkeit unserer Zeit müssen wir darauf achten, dass die Basis stimmt.
Inwieweit haben sich die Schülerinnen und Schüler verändert?
Als ich angefangen habe, waren sie auf jeden Fall noch deutlich rebellischer. Gerade durch die Corona-Pandemie konnten wir feststellen, dass die Schüler disziplinierter geworden sind. Sie sind sehr strukturiert, können sich selbst sehr gut organisieren, vor allem die begabteren Mädchen und Jungen. Laut einer Studie des Rheingold-Instituts für den »Stern« haben 70 Prozent der befragten 1053 Schüler zwischen 15 und 19 Jahren angegeben, sie seien sehr resilient durch diese Phase gegangen - also von wegen »verlorene Generation«. Das bestätigen auch die ausgezeichneten Abiturergebnisse in diesem Jahr. Problematisch sehe ich allerdings, dass der Studie zufolge der Anteil derjenigen, die sich psychisch belastet fühlen, von 20 auf 30 Prozent gestiegen ist.
Für wie begründet halten Sie denn die Sorge, dass mögliche Versäumnisse während der Pandemie nicht mehr aufgeholt werden können und dies zu einem Bildungsverlust mit gravierenden langfristigen Folgen führt?
Schwächere Schüler, die ohnehin Schwierigkeiten haben, sich Lerninhalte anzueignen, brauchen auf jeden Fall mehr Hilfe. Ein sehr guter Schüler kann leichter zum Selbstlernen angeleitet werden. Am Gymnasium fällt das vielen Schülern leichter. Ich kann mir aber vorstellen, dass es in anderen Schulformen mehr Defizite geben kann. Das Hessische Kultusministerium ist bemüht, mit dem Programm »Löwenstark« diese Defizite zu beseitigen, auch mit kulturellen Angeboten. Darüber sind wir sehr froh.
In welchen Bereichen werden diese Gelder zum Beispiel am LLG genutzt?
In erster Linie wird das Geld in Fördermaßnahmen investiert, sodass wir besondere Kurse anbieten und zum Teil mit einer Doppelbesetzung in großen Klassen arbeiten konnten, um uns einzelnen Schülern intensiver zuzuwenden. Außerdem haben wir ein Angebot unterbreitet, um etwa die Stressresilienz zu erhöhen. Und wir konnten bei Fahrten Unterstützung gewähren.
Auch in Gießen stehen die weiterführenden Schulen Jahr für Jahr im Wettbewerb um die Fünftklässler. Aber wie sinnvoll ist es überhaupt, dass sich Kinder - und Eltern - schon nach der vierten Klasse für eine Schulform entscheiden müssen?
Ich bin Vollblut-Gymnasiallehrerin und mein Herz schlug schon immer für diese Schulform. Aber ich war auch 17 Jahre an einer Kooperativen Gesamtschule. Da haben wir am Anfang noch circa ein bis zwei Jahre alle Schüler gemeinsam unterrichtet. In meinem Fach, der Mathematik, lässt sich sehr schnell erkennen, auf welchem Leistungsniveau sich jemand bewegt. Was ich ebenfalls wahrgenommen habe, war die Freude der Schüler, die nach der Einstufung in den jeweiligen Kursen auf ihrem Niveau Erfolge verbuchen konnten. Schüler haben mir über den Schulhof stolz zugerufen: Frau Mühlhans, ich habe eine 2 geschrieben. Menschen brauchen Erfolge, um sich weiterzuentwickeln, das ist für mich ganz zentral. Wenn ich positive Rückmeldungen bekomme, mache ich etwas umso lieber, engagiere mich mehr und verbessere dadurch meine Leistung.
Ein Kritikpunkt ist immer wieder, dass Bildungschancen zu sehr von der sozialen Herkunft abhängig sind. Wie nehmen Sie das wahr?
Ja, die Kritik ist nicht unberechtigt. Zunächst einmal ist jedes Kind seinen Eltern gegenüber loyal, das ist normal. Auch auf dem Gymnasium haben wir Möglichkeiten, uns um solche Schüler besonders zu kümmern, die aus einer bildungsferneren Familie stammen, aber trotzdem die Fähigkeiten besitzen, das Abitur zu schaffen. Hier sind wir als Gesellschaft gefordert, noch stärker daran zu arbeiten, denn wir können dieses Potenzial nicht einfach liegen lassen.
Für sie steht jetzt eine neue Lebensphase an: Freuen Sie sich darauf oder würden Sie gerne weitermachen?
Ich hätte noch ein paar Jährchen weiterarbeiten können, aber für mich ist es jetzt der richtige, weil selbst gewählte Zeitpunkt, in Pension zu gehen. Was ich für mein LLG erreichen wollte, habe ich erreicht. Natürlich heißt das nicht, dass die Schule vollendet ist, ich bin nicht vermessen, aber die kleinen Ziele, die ich mir gesteckt habe, konnte ich mit meinem Kollegium umsetzen. Im Übrigen hat sich meine persönliche Situation geändert: Ich bin Großmutter geworden und möchte mir für meine Enkelin Zeit nehmen, möchte meiner Tochter die Unterstützung geben, die ich von meiner Mutter hatte, damit sie in ihren Beruf zurückkehren kann. Darüber hinaus möchte ich mich in anderen Bereichen engagieren. Für neue Aufgabengebiete kann ich mich allerdings erst öffnen, wenn ich die Arbeit am LLG abgeschlossen habe.