Die Kippe als »ideale kleine Flucht«?

Laut DEBRA-Studie gibt es wieder mehr jugendliche Raucher. Dr. Bernd Hündersen vom Suchthilfezentrum Gießen ordnet die Ergebnisse ein, erklärt Motive und warnt vor voreiligen Interpretationen.
Gießen. Früher war nicht nur mehr Lametta, wie wir seit Loriots Sketch »Weihnachten bei Hoppenstedts« wissen. Früher war auch überall viel mehr Qualm. Kaum ein Film, im dem die dargestellten Charaktere nicht unentwegt an einer Zigarette oder Zigarre zogen, rauchfreie Gaststätten spielten keine Rolle und selbst im Flugzeug durfte noch ordentlich geplotzt werden. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Rauchen inzwischen längst nicht mehr so verbreitet, Tabakwerbung wird stark eingeschränkt, und bisweilen recht eklige Packungshinweise sollen die Lust am Glimmstängel verleiden. Daher sorgte jüngst eine Studie für Aufsehen, dass nach zuletzt rückläufiger Entwicklung die Zahl der rauchenden Jugendlichen in Deutschland im Jahr 2022 sprunghaft gestiegen ist. Stress in der Corona-Pandemie wird dabei oft als Grund vermutet. Für Dr. Bernd Hündersen, Geschäftsführer des Suchthilfezentrums (SHZ) Gießen, greift das allein zu kurz. Natürlich seien die Befunde ernst zu nehmen, gleichzeitig warnt er aber vor allzu voreiligen Interpretationen. Vor allem, weil methodisch nicht zwischen genussvollem, gefährdendem, missbräuchlichem und abhängigem Konsum differenziert werde.
»Einstiegsdroge«
Rauchen gilt hierzulande als das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko. Deutschlandweit sterben pro Jahr über 127 000 Menschen an den Folgen - 40-mal so viele wie im Straßenverkehr und 60-mal so viele wie durch Heroin oder andere illegale Drogen. Die repräsentative »Deutsche Befragung zum Rauchverhalten« (DEBRA) konstatiert nun: Unter den 14- bis 17-Jährigen hat sich der Anteil der Tabakraucher von 8,7 auf 15,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt, bei den 18- bis 24-Jährigen ist er von 36,1 auf 40,8 Prozent und in der Altersgruppe der über 25-Jährigen von 30,8 auf 35,6 Prozent gewachsen. Auch E-Zigaretten gewinnen demnach an Beliebtheit. Wissenschaftler befragten für die Studie alle zwei Monate rund 2000 Personen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach zeigte sich entsetzt über das Ergebnis und forderte Maßnahmen für einen besseren Jugendschutz.
In der Tat sei Tabak generell » die Einstiegsdroge« für unterschiedliche Suchtformen, betont Bernd Hündersen. Und je besser es gelinge, das Einstiegsalter zu erhöhen, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, überhaupt keine Suchtproblematik zu entwickeln. Aus den aktuellen Zahlen lasse sich indes noch gar nicht ableiten, inwieweit überhaupt ein neues Suchtphänomen entstehe, wie stark der Anteil derjenigen ist, die damit bloß experimentieren oder ob sich hier vielleicht »nur ein neuer Trend zu kontrolliertem genussorientiertem Rauchen« widerspiegele.
Abgesehen davon, dass historisch betrachtet noch immer weniger junge Leute rauchen als etwa in den 70er oder 80er Jahren, treffe die DEBRA-Studie nämlich keine hinreichende Aussage über die Häufigkeit. Trotzdem werde Tabakkonsum automatisch gleichgesetzt mit einer hohen Gefährdung. »Das ist insofern richtig, als sich beim Verbrennen eine Vielzahl toxischer Stoffe bildet, die für uns schädlich bis krebserregend sind. Aber wenn jemand täglich raucht, ist es ja ein Unterschied, ob es sich um zwei oder um 60 Zigaretten handelt«, verdeutlicht der Soziologe.
Und auch auf die Motive müsse geschaut werden. »Wir sollten anerkennen, dass es vielfältige Rituale gibt, die bewusst eingesetzt werden, um sich zu belohnen und sich ein angenehmes Gefühl zu verschaffen«, sagt Hündersen. Und fügt hinzu: »Da sprechen wir nicht gleich von Missbrauch, sondern über etwas, das uns subjektiv guttut und hilft, die Anforderungen des Lebens auszubalancieren.« In einer durch die Arbeit, Beziehungen, Pandemie, steigende Preise und Krieg zunehmend krisenbelasteten Gesellschaft erweise sich das Rauchen als »sozial unauffälliges und akzeptiertes Modell der Entstressung«. Die Zigarette diene dem Zweck, »sich eine kleine Auszeit zu gönnen«. Wenn es darum gehe, sich eine »ideale kleine Flucht« zu suchen und danach - anders als etwa beim Alkohol - wieder »in den normalen Funktionsmodus zu springen«, sei für viele die »legale Droge Nikotin an Attraktivität kaum zu überbieten«.
Hemmschwelle sinkt
Einen zusätzlichen Reiz dürften die E-Zigaretten ausüben. »Durch Geschmacksbeimischungen werden sie leckerer, der Atem riecht angenehmer, das senkt die Hemmschwelle«, erklärt der SHZ-Geschäftsführer. Gerade in einer jungen Generation, die sehr viel wert auf Körperdesign lege, »ist das für manche sicherlich ein Einfallstor, die sonst nicht rauchen würden«.
Doch was ist zu tun, um gegenzusteuern? Moderne Ansätze sollten jedenfalls nicht primär auf Abstinenz ausgerichtet sein. Bei etlichen Substanzen sei das möglich. »Wir erleben bei der Verhaltensprävention einen Paradigmenwechsel - weg davon, junge Menschen komplett von irgendeinem Konsum abhalten zu wollen. Denn durch reine Abschreckung erreichen wir nicht viel«, sagt Hündersen. Entscheidender für eine funktionierende Suchtprävention sei vielmehr, ihre Selbststeuerungsfähigkeit zu optimieren. Sie sollten lernen nachzuspüren, was die für sie passende Dosis sei. Oder anders formuliert: »Bis zu welchem Grad ist etwas noch nachhaltig selbstfürsorglich und ab wann selbstschädigend?« Deshalb gelte es, die Jugendlichen früh mit ihren Gedanken und insbesondere ihren Gefühlen in Kontakt zu bringen. Wenn sie reflektieren, wie es ihnen geht und womit das zusammenhängt, werde ihnen eher bewusst, »dass ein unkritisches Fortsetzen ihres Verhaltens das Potenzial von Selbst- und Fremdgefährdung in sich trägt«. Das Ziel müsse jedoch sein, »sie genussfähig zu machen«.
Für Schulamtsleiter Norbert Kissel sind die aktuellen Ergebnisse »besorgniserregend«. Auch Stadtschulsprecher Maximilian Stock spricht von einer »bedenklichen Lage«, weil wieder mehr Jugendliche zur Zigarette greifen. Zwar fehle dem Stadtschülerrat (SSR) die Datengrundlage für eine valide Einschätzung an allen Gießener Schulen, allerdings sei durchaus »eine deutliche Zunahme« wahrzunehmen, vor allem ab der Jahrgangsstufe 9. Zu differenzieren sei gleichwohl zwischen zwei Gruppen: denjenigen, die häufiger rauchen »und fast schon eine Sucht entwickelt haben«, und denjenigen, die das nur gelegentlich tun, etwa auf Feiern. Nicht zu unterschätzen sei der Einfluss sogenannter »Vapes« - also E-Zigaretten, bei denen eine nikotinhaltige Flüssigkeit erhitzt wird, um den entstehenden Dampf einzuatmen (»Vaping«). Sie »bergen ein besonderes Risiko. Der regelmäßige Konsum kann die Entwicklung des Gehirns und der Atemwege negativ beeinträchtigen«, heißt es in der Faktensammlung zur DEBRA-Untersuchung. Nicht zuletzt könne so der Einstieg ins Tabakrauchen begünstigt werden.
Eine entscheidende Rolle für den Anstieg spielt nach Auffassung des SSR die Corona-Pandemie: »Für die jetzige Generation ist in dieser Zeit viel Raum für Entfaltung weggefallen. Diese Zeit holen sich Schüler zurück. Dazu gehören leider auch Zigaretten, ›Vapes‹ und Alkohol.« Zugleich gelte es, darüber nachzudenken, warum die üblichen, bereits flächendeckend umgesetzten Präventionsprogramme offenbar »immer weniger Nutzen haben«. Trotzdem seien derlei Angebote richtig und weiterhin unterstützenswert. Als gewinnbringend erweise sich insbesondere die Kooperation mit dem Suchthilfezentrum (SHZ). Formate wie Workshops hätten sich bewährt. Wünschenswert wäre laut SSR aber, damit schon in der Jahrgangsstufe 6 zu beginnen.
Die Zusammenarbeit mit dem SHZ stuft auch der Leiter des Staatlichen Schulamtes für den Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis als wichtig ein. Der Landkreis habe in der Vergangenheit ebenfalls verschiedene Projekte wie einen »Mitmachparcours zur Suchtprävention« durchgeführt. Corona-bedingt sei dies zwar nur eingeschränkt möglich gewesen, die Arbeit habe nun jedoch »wieder Fahrt aufgenommen«. Hinzu kommt, dass sich der Fokus in den vergangenen Jahren weniger auf den »Nikotinkonsum in klassischer Form« gerichtet habe, da hier die Zahlen kontinuierlich gesunken seien. »Thematisiert wurden eher die Gefahren der neuen E-Produkte, Alkohol, Cannabis und Medienkonsum«, so Kissel.
Grundsätzlich gebe es in jedem Schulamt eine schulpsychologische Ansprechperson, deren Aufgabe es sei, Schulen suchtpräventiv sowie im Umgang mit konkreten Vorfällen zu unterstützen. Ihr obliege ferner die Koordination qualifizierter Beratungslehrkräfte für Suchtprävention, die an jeder weiterführenden Schule vorhanden sind und dort entsprechende Projekte organisieren. Zweimal pro Schuljahr werden sie auf Dienstversammlungen mit neuen Informationen vertraut gemacht und können sich austauschen.
Jede Schule kann sich am Wettbewerb »Be smart, don’t start« (https://www.besmart.info/) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beteiligen. Zielgruppe sind Sechst- bis Achtklässler. Die Teilnehmer verpflichten sich, sechs Monate »rauchfrei« zu bleiben.
Gerade erst fand eine Fortbildung für »IPSY« von der Uni Jena statt. Dabei geht es laut Kissel um ein »Lebenskompetenzprogramm« für die Klassen 5 bis 7. Ziele seien, eine positive Entwicklung im Jugendalter zu fördern, den Konsumbeginn hinauszuzögern respektive den Substanzkonsum oder gar -missbrauch zu vermindern oder ganz zu verhindern. (bl)
