Die Mall als ein geschützter Ort

Neustädter Tor: Ein Interview mit der scheidenden Center-Managerin Fabiola Peiniger
Gießen. »Das können Sie doch nicht machen«, sagt die junge Frau, nimmt Fabiola Peiniger in den Arm und drückt sie lange. Eine Szene, die sich noch mehrfach beim Rundgang durch die Galerie Neustädter Tor wiederholen wird, wo wir einen guten Standort für das Foto zum Abschiedsinterview suchen. Ob in der neuen Eisdiele, im Food-Court oder vorm Haupteingang. Peiniger hat in ihren sieben Jahren als Center-Managerin des größten Einzelhandelsstandorts in Gießen ganz offensichtlich Spuren hinterlassen. Nach zehn Jahren im Einzelhandel und weiteren 19 Jahren im Center-Management nimmt die 55-Jährige jetzt vor allem aus persönlichen Gründen eine Auszeit und will ihrer 80-jährigen Mutter, die neben ihr noch sechs weitere Kinder aufgezogen hat, etwas zurückgeben, bevor sie wieder ins Berufsleben zurückkehrt und dann »natürlich wieder etwas mit Immobilien« machen will.
Selbst jetzt, wo die Verantwortung nicht mehr auf ihren Schultern liegt, ist es gar nicht so einfach, Peiniger ein paar persönliche Dinge zu entlocken. In den letzten Jahren habe sie das Radfahren für sich entdeckt, sagt sie. Obwohl sie eigentlich keine Sportskanone sei, mache sie mittlerweile mit ihrem E-Bike Touren von 80 Kilometern. »Darauf bin ich schon ein bisschen stolz«. Außerdem liest sie gerne. Und was? »Philosophisches, Management-Fachbücher und so etwas.« Ja, hat die Centermangerin denn nie Feierabend? Und dann gesteht sie doch mit einem halb amüsierten, halb verlegenen Lächeln, dass der Sonntagabend für Rosamunde Pilcher und Inspektor Barnaby reserviert ist. »Da kann man abschalten, muss nicht viel nachdenken und weiß stets, dass am Ende doch immer alles gut werden wird.«
Sie haben sieben Jahre lang die Galerie Neustädter Tor geleitet, und damit länger als die meisten Ihrer Vorgänger zusammen. Was sind in der Rückschau Ihre größten Erfolge in dieser Zeit und was haben Sie nicht erreicht?
Alles in allem ist wohl mein größter Erfolg das Vertrauen, das Mieter und Geschäftspartner in mich hatten. Meine Versprechen habe ich immer gehalten, aber das Ausmaß an Vertrauen, das mir in diesen sieben Jahren entgegengebracht wurde, ist für mich trotzdem nicht selbstverständlich. Wenn ich Erfolge aufzähle, dann sind das nie Einzelleistungen von mir. Nein, das sind die Erfolge eines tollen Teams. Ohne technische Fachkräfte, den Wachdienst, das Sekretariat, unsere Aushilfen wäre nichts davon möglich gewesen. Die größten Erfolge sind für mich, wenn den Ideen des Teams Leben eingehaucht wird. Wir zerbrechen uns den Kopf, wie wir das Center für die Kundinnen und Kunden besser machen können. Das dann in der Umsetzung zu sehen, macht unglaublich zufrieden.
Und was verbuchen Sie ganz konkret auf ihrer Habenseite?
Wir haben die Miss-Hessen-Wahl neu aufgestellt. Die Ausbildungsmesse »Next Step«, die wir gemeinsam mit der Agentur für Arbeit aufgezogen haben, mit der langjährigen Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz als Schirmherrin. Dass wir für den verkaufsoffenen Sonntag dieses Jahr Anfragen von Gruppen bekommen haben, ob sie bei uns auftreten dürfen. Dass sich Menschen das Neustädter als Location für ihre Heiratsanträge aussuchen. Daran sieht man, dass sich der Spirit des Objekts in den vergangenen Jahren verändert hat. Was ich nicht erreicht habe, aber das liegt am Timing: Das Center in die Neueröffnung nach der umfassenden Modernisierung zu führen. Im Leben gibt es eben selten den perfekten Zeitpunkt für Veränderung. Die Geschicke des Neustädter lenkt ab sofort mein Nachfolger Olaf Deistler. Er ist Vollprofi mit jahrzehntelanger Erfahrung, seit Jahren mein Kollege und seit einem halben Jahr arbeiten wir bereits gemeinsam im Center-Management. Ich übergebe die Galerie in fähige und verantwortungsbewusste Hände.
Was haben Sie anders und wohl auch besser gemacht als Ihre Vorgänger?
Verkürzt gesagt: Ich war da. Ich war zu verschiedensten Zeiten da. Morgens, mittags, abends, nachts. Ich hatte immer ein offenes Ohr für die Mieter, ihre Anliegen und Herausforderungen. Eine Anekdote aus dieser Zeit: Als ich neu im Center war, bin ich am verkaufsoffenen Sonntag mit einem Körbchen voller kleiner Schokoladentafeln von Shop zu Shop gelaufen und habe den Mitarbeitenn gesagt: »Ich bin auch hier«. Die Reaktionen: überrascht, skeptisch, verschreckt. Beim nächsten Verkaufsoffenen Sonntag machte ich das wieder. Beim dritten Mal sagten die Menschen zu mir: »Wir haben schon auf Sie gewartet!« Ich war verlässlich, stand zu meinem Wort, und so habe ich das Center auch geführt. Das Center war für mich keine Ausbildungsstätte. Mir war klar: Ich betreue die Galerie Neustädter Tor. Punkt.
Der Einzelhandel hatte in den letzten Jahren einen schweren Stand durch den Trend zum Online-Shopping, die Corona-Lockdowns und in Gießen durch eine eher autounfreundliche Verkehrspolitik - Stichwort: Verkehrsversuch. Waren Sie immer zufrieden mit der Kommunalpolitik oder hätten Sie sich mehr Unterstützung für die Galerie gewünscht?
Die Gießener Politik und das Rathaus haben mich immer sehr gut unterstützt. Ich habe auf meine Fragen immer qualifizierte Antworten bekommen, mit denen ich weiterdenken und -arbeiten konnte. Mir wurde gleichermaßen zugehört. Wir haben gemeinsam Lösungen erarbeitet. Ich habe die Kommunalpolitik stets so erlebt, dass sie sorgsam mit den Interessen der Bevölkerung umgegangen ist und wahrhaftig interessiert war an Gießen.
Corona ist noch nicht vorbei, da droht am Horizont bereits eine langanhaltende Inflation und Rezession, die mit Sicherheit auch auf das Konsumverhalten der Menschen durchschlagen werden. Sind große Einkaufspaläste wie die Galerie da noch zeitgemäß?
Was jüngere Menschen noch nicht erfahren haben, aber was viele aus den älteren Generationen präsent haben: Krisen gibt es immer wieder. Das, was wir als Normalität definieren, ist eigentlich nur ein kurzes Aufatmen zwischendurch. Und das Neustädter versteht sich als Ort für dieses Aufatmen, als Treffpunkt mit Verweilqualität, als Teil einer lebendigen Innenstadt, wo es nicht nur um Konsum geht.
Wie muss denn ein guter Themenmix im Angebot aussehen, um auch künftig ein Publikumsmagnet und Bollwerk gegen die Verödung der Innenstädte zu bleiben?
Neben einem abgestimmten Angebot an attraktiven und gefragten Marken ist es wichtig, angstfreie Wohlfühlräume zu schaffen. Innerhalb der Innenstädte sind Shopping-Center noch einmal geschützter - das leisten wir zum Beispiel mit der angenehmen Präsenz unseres Wachdienstes. Das können Innenstädte gar nicht als klar definierter Raum leisten. Gleichzeitig ist das Neustädter ein hybrides Einkaufszentrum, das nicht nur Handel, Gastronomie und Dienstleistungen bietet, sondern auch ein Ort für Freizeit und Kultur ist. Das Fitnessstudio zum Beispiel ist 365 Tage im Jahr geöffnet, 24 Stunden täglich. Das Neustädter ist also eine Anlaufstelle auch über die Öffnungszeiten der einzelnen Läden hin hinaus.
Wie kann man eine Generation in die Innenstädte locken, die es gewohnt ist, Produkte mit kostenlosem Rückgaberecht vor die Haustür geliefert zu bekommen?
Ein kostenloses Rückgaberecht habe ich im stationären Handel ebenfalls. Und ganz ohne Aufwand gehen Online-Bestellungen ja auch nicht: Jemand muss die Pakete annehmen, und etwaige Retouren muss man auch organisieren. Außerdem berät im Internet in der Regel höchstens der Algorithmus: »Andere Kunden kauften auch ". Beim Einkaufen im Geschäft und durch die professionelle Beratung komme ich dagegen auf Ideen, die nur in Interaktion mit anderen Menschen entstehen können.
In Gießen werden im Herbst die Parkgebühren zum Teil drastisch erhöht. Ist das von Vorteil für die Galerie mit ihrem eigenen und dann wahrscheinlich kostengünstigeren Parkhaus oder würden Sie sich kostenlose Parkplätze an der Peripherie und Shuttlebusse wünschen, um Gießen für mehr Kunden attraktiver zu machen?
Die Brisanz des Themas Verkehrspolitik ist kein ausschließliches Gießen-Thema. Das haben wir deutschlandweit, ja weltweit. Wir alle müssen unser Denken verändern und verantwortungsbewusst handeln. Dafür muss sicherlich auch einiges ausprobiert werden, bis man eine tragfähige Lösung gefunden hat.
Jahrzehntelang galt in Mittelhessen die eherne Regel: Nach Marburg fährt man für einen Ausflug, nach Gießen zum Einkaufen. Gilt das noch immer?
Ja, das gilt wohl immer noch. In Gießen kann man flanieren, ohne dass man Bergsteigen muss. Und hier findet man noch immer eine breite Auswahl an Marken und die großen Ketten.
Letzte Frage, was werden Sie in Gießen am meisten vermissen und was gar nicht?
Am meisten werden mir die Menschen fehlen. Gar nicht fehlen werden mir die langen dunklen Winterabende und das Rund-um-die-Uhr-präsent-sein-müssen.