Die rote Linie an der Abbruchkante

Solidaritäts-Mahnwache am Kugelbrunnen in Gießen für Klimaaktivisten in Lützerath.
Gießen . Für Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist »die leergezogene Siedlung Lützerath, wo keiner mehr wohnt« das »falsche Symbol« für den Kampf gegen den Klimawandel. Rund 50 Demonstranten sahen das am Mittwochnachmittag anders. Mehrere Stunden lang protestierten sie friedlich mit einer Solidaritäts-Mahnwache am Kugelbrunnen gegen die am selben Tag begonnene Räumung des kleinen Dorfes in der Nähe von Aachen, das als letzte Siedlung dem Braunkohletagebau Garzweiler zum Opfer fallen soll. Nur am Rande der Veranstaltung kam es zu einem kleinen Zwischenfall mit einem Demonstranten, der ein anderes Anliegen hatte.
»Abbruch unnötig«
Organisiert wurde die Kundgebung von »Fridays for Future«, »Students for Future« und der Greenpeace-Ortsgruppe Gießen. Zum Auftakt erinnerte Veranstaltungsleiterin Helena Renz daran, dass seit 1945 rund 30 Dörfer in Deutschland der Braunkohle zum Opfer gefallen seien, der vielleicht schmutzigsten aller fossilen Energiequellen. Dabei werde die Kohle gar nicht mehr gebraucht, um die vereinbarten Liefermengen bis zum Kohleausstieg 2030 zu erreichen. Lützerath sei weniger für die Umweltbewegung, sondern eher für den Energiekonzern RWE zu einem Symbol geworden. Der wolle hier seinen Willen durchsetzen, um Umweltschützer zu entmutigen. Aktuelle wissenschaftliche Studien würden jedoch zeigen, dass mit dem Verbrennen der Kohle unter Lützerath das 1,5-Grad-Ziel in Deutschland definitiv verfehlt werde.
Die rote Linie, die uns von einer überhitzten Welt jenseits unumkehrbarer Kipppunkte trenne, verlaufe nicht in einer noch fernen Zukunft, sondern am Ortsrand von Lützerath und an der Abbruchkannte des Tagebaus, betonte auch Greenpeace-Sprecherin Anina Vogt.
Aufmerksamer Zuhörer am Rande war der frühere Leiter der Gießener Kinder-Radiologie, Prof. Gerhard Alzen. Er hat nach seiner Emeritierung noch einmal ein Studium der Geologie begonnen, um die Problematik des Klimawandels besser zu verstehen. Er erinnerte daran, dass die politischen Kräften, die die Existenz des menschengemachten Klimawandels am entschiedendsten leugnen, meist auch am meisten Front gegen die Aufnahme von Flüchtlingen machten. Dabei sei es gerade die Politik des »Weiter so«, die dazu beitrage, dass immer größere Regionen des Planeten unbewohnbar würden und die Menschen dazu zwinge, ihre Heimat zu verlassen.
Andere Sprecher appellierten unter anderem an die Gießener Stadtwerke, den Kohlestromanteil an ihrem Energie-Mix zu streichen und einen Ökostromtarif aufzulegen, der den Ausbau erneuerbarer Energien in der Region aktiv vorantreibe, statt Zertifikate von bereits existierenden Wasserkraftwerken zu kaufen.
Dr. Marc Strickert von »Scientists for Future« lobte ausdrücklich die Kür des Begriffs »Klima-Terroristen« zum »Unwort des Jahres«. Mit dieser Bezeichnung sollten ausgerechnet diejenigen kriminalisiert und diskreditiert werden, die sich für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten einsetzten. Man stelle Umweltschützer damit in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit.
Strickert hofft, dass, durch diese Wahl ermutigt, Journalisten, die von der Räumung Lützeraths berichten, nicht mehr »kritiklos und undifferenziert« dem Narrativ der Polizei folgten, sondern auch über Übergriffe der Ordnungshüter in angemessener Form berichteten.
Bei den wenigen Passanten, die an einem regnerischen Nachmittag durch den Seltersweg gingen, ernteten die Demonstranten durchweg Zustimmung. Die beiden 19-jährigen Studentinnen Jette und Tabea etwa teilten die Forderung nach einem Erhalt des westfälischen Dorfes. Lützerath sei weit mehr als ein Symbol. »Irgendwas muss sich ändern«, meinten auch die beiden 14 Jahre alten Gesamtschüler Julian und Louis.
Am Rande der Demonstration kam es zu einer kurzen Rangelei mit einem Einzel-Demonstranten, der mit einem improvisierten Pappschild für den Weltfrieden, gegen den Atomkrieg und gegen Putin demonstrieren wollte, aber nach einem Wortwechsel mit der Polizei des Platzes verwiesen wurde.
Die Demonstrationsleiterin erklärte auf Nachfrage, der Friedensaktivist sei nach Beschwerden aus den Reihen der Zuschauer und nicht von den Rednern von der Polizei entfernt worden. Zuvor habe er sich demonstrativ vor den Rednern aufgebaut und mit seinem Anliegen ihre angemeldete Demonstration gekapert. »Wir haben uns nicht an seinem Anliegen gestört, sondern an der Art, wie er es vorgebracht hat«, betonte Renz.