»Die Russen machten Jagd auf uns«

Gießen (red). Auf die Bedrohung und Verfolgung von Schriftstellern und Journalisten wollen Studierende der Justus-Liebig-Universität (JLU) aufmerksam machen. Deshalb haben die jungen Leute im Jahr 2008 die Initiative »Gefangenes Wort« gegründet, die sich längst zu einem Verein weiterentwickelt hat. Um noch intensiver auf Einzelschicksale hinzuweisen, kooperiert der Anzeiger mit dem Verein und stellt jeweils zu Beginn des Monats einen Fall auf der Hochschulseite vor.
Heute berichtet Susann Franke über den ukrainischen Multiformat-Journalisten Mstyslav Chernov.
»Der Welt die Wahrheit über Putins Aggression zu berichten, ist tödlich«, hält Iryna Wenediktowa, ukrainische Generalstaatsanwältin, fest und zeichnet damit ein bedrückendes Bild davon, wie es um die Wahrheit und ihre Berichterstattung bestellt ist. Wenn Journalist:Innen aufhören, unabhängig zu berichten und Informationen mit der Welt zu teilen, dann verlieren wir den Boden, auf dem wir alle stehen.
Mstyslav Chernov ist einer von denen, die nicht aufhören. Er war einer der letzten Journalisten in Mariupol, jener Stadt in der Ukraine, die bis heute von russischen Truppen belagert und bombardiert wird, der diese Wahrheit vor Ort dokumentiert hat. Mitte März stürmten Soldat:innen das Krankenhaus, in dem er als Associated-Press-Journalist russische Kriegsverbrechen dokumentierte. Diese Zeit war überschattet von der Angst, den falschen Leuten in die Hände zu fallen, da seit dem Beginn des Angriffskrieges am 24. Februar immer wieder Menschen verschwinden. Nicht nur Bürgermeister und Aktivist:innen, auch Journalist:innen werden bedroht, verschleppt und festgenommen. »Reporter ohne Grenzen« berichtet von Folter gegenüber Journalist:innen - »Die Russen machten Jagd auf uns. Sie hatten eine Liste mit Namen, einschließlich unserer, und kamen näher«, berichtet auch Mstyslav Chernov.
Der Krieg in der Ukraine wird nicht nur mit Bomben und Maschinengewehren geführt, sondern auch mit (Falsch-)Informationen. Neben Raketen nutzt der russische Präsident Wladimir Putin solche gezielt, wie etwa die haltlose Behauptung eines Genozids der Ukraine am russischen Volk.
Jeanne Cavelier, Leiterin des Osteuropa- und Zentralasien-Teams von »Reporter ohne Grenzen«, gibt Einblick in das Vorgehen des Aggressors: »Indem sie Geiseln nehmen, Fernsehtürme bombardieren und auf Autos mit der Aufschrift ›Presse‹ schießen, demonstrieren die russischen Behörden ihre Entschlossenheit, alle Berichte zu zensieren, die ihrer Militärpropaganda widersprechen.«
Mit dem neuen Mediengesetz versucht Putin die Wahrheit zum Schweigen zu bringen: Es verbietet das Verbreiten von vermeintlichen Falschnachrichten über russische Streitkräfte, beispielsweise darf der Krieg nicht als solcher benannt werden. Wer sich dagegenstellt, muss mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen. Aber Mstyslav Chernov lässt sich nicht einschüchtern. Während der russische Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow dementierte, dass zivile Einrichtungen angegriffen würden, dokumentiert er die Gräueltaten der russischen Einsatzkräfte. Bereits in der Vergangenheit hat der Journalist in und über die Kriegsschauplätze der Welt geschrieben, darunter Syrien, Irak und Donbass.
Angst eingefangen
Chernovs Texte von den menschenrechtsverletzenden Vorgängen rücken durch seine eindrucksvollen Bilder bedrückend nah. Sie fangen die Angst ein, machen die Verzweiflung greifbar. Der Multiformat-Journalist sieht es als seine Verantwortung an, den Menschen die Wahrheit zu zeigen, und teilt seine Eindrücke nicht nur mit Redaktionen, sondern mit der ganzen Welt auf seinen Social-Media-Accounts.
Bereits 2020 veröffentlichte er sein Buch »Dreamtime«. Ein fiktionales Buch über eine Gesellschaft im Krieg, in das er auch seine jahrelangen Erfahrungen aus der Kriegsberichterstattung einfließen ließ. Für seine Arbeiten erhielt er bereits zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Preis »Young Talent of the Year« von der Royal Television Society.
Für den Moment ist Mstyslav Chernov in Sicherheit. Die ukrainischen Soldat:innen konnten ihn und seinen Kollegen Evgeniy Maloletka, die beiden letzten Journalisten Mariupols, unverletzt aus der umkämpften Stadt bringen. Journalist:innen wie Mstyslav Chernov sind es, die tagtäglich die Wahrheit verteidigen.