Die russische Perspektive

Aus russischer Sicht argumentieren: Studenten aus Gießen nehmen an einem Planspiel der UN in New York teil.
Gießen. Die russische Perspektive einnehmen? Derzeit ist das keine einfache Aufgabe, der sich Dijwar Ortac, Lina Kost, Christina Bähr und Mohamad Rashid allerdings angenommen haben. Begleitet von Vera Strobel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität, haben sie an der diesjährigen Konferenz »National Model United Nations« in New York teilgenommen. Sie findet jedes Jahr statt und ist »quasi ein Planspiel von den Vereinten Nationen«, berichtet Kost. Aufgabe der Gießener Delegation sei es gewesen, aus russischer Sicht zu verhandeln und die Interessen Russlands in eine Resolution einzubringen, die zuvor in Komitees erarbeitet wurde.
Frauenrechte und Stadtentwicklung
Ausgesucht haben sich die Gießener, die insgesamt zehn Tage in New York waren, ihre Rolle nicht. »Man kriegt sein Land zugeteilt und wird in Komitees eingeteilt. Wir waren in »UN Habitat« und »UN Women«, erzählt Bähr. In ihrer Gruppe hätten die Frauenrechte im Fokus gestanden, während sich Ortac »viel mit Städteentwicklung und der Entwicklung nachhaltiger Städteplanung« befasst hat. Auch Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung hätten im Fokus gestanden. Und »wir hatten mit der Universität Siegen eine Co-Delegation, die Russland in den anderen Komitees vertreten hat«, ergänzt Ortac.
Vor der eigentlichen Konferenz hätten alle ein eher schlechtes Gefühl gehabt. »Als der Krieg in der Ukraine angefangen hat, war es ganz komisch zu wissen: Okay, in einem Monat müssen wir in die Rolle Russlands schlüpfen. Wir haben uns sehr sachlich darauf vorbereitet So haben wir uns damit arrangiert. In den Komitees zu argumentieren haben wir so gelöst: Man redet ja nie für sich, sondern für Russland oder die Delegation. So konnte man sich distanzieren«, berichtet Kost. »Die russische Perspektive einzunehmen, war interessant. Man steht im Moment einfach nicht so gut da. Nicht jeder will momentan mit Russland kooperieren. Deshalb haben wir uns im Vorfeld schon Gedanken gemacht, wie wir die anderen dazu kriegen, mit uns zu reden«, fügt Bähr hinzu. Sie spricht von einer »spannenden Aufgabe«. Zudem hätten die Gießener das Glück gehabt, dass die Themen in »unseren Komitees nicht direkt mit dem Krieg zu tun hatten. Deswegen kam es glücklicherweise nicht zu Schwierigkeiten. Man muss im Moment ja mit allem rechnen.« Gerade das ist für Rashid spannend gewesen. Gemütliche Positionen vertreten könne jeder. »Aber dass man sich dann in für uns mehr oder weniger nicht nachvollziehbare Positionen hineinversetzen muss, sie gesichtswahrend vortragen kann und dabei Ernsthaftigkeit bewahrt - das habe ich als fast angenehme Herausforderung empfunden«, betont der Student.
»Andere Länder überzeugen«
In den Komitees hätten die Teilnehmer an Resolutionstexten gearbeitet und versuchen müssen, die Vertreter anderer Länder von der eigenen Position zu überzeugen. »Das Ganze ist ein permanenter Prozess der Kompromissbildung gewesen«, erinnert sich Rashid. Neben Rechtswissenschaften - alle vier Gießener studieren Jura - sind in den Gruppen auch Fächer wie Chemie oder Nanotechnologie vertreten gewesen. In der Rückschau berichten die Vier, deren Komitees ausschließlich in englischer Sprache abgehalten wurden, dass sie Kompetenzen wie das freie Reden in New York vertiefen konnten. Genau das will der Fachbereich mit der Teilnahme erreichen.
»Es ist eine Wahlveranstaltung für den Völkerrechtsschwerpunkt. Aber wir nehmen eben auch bewusst andere Leute, die nicht unbedingt aus dem Völkerrecht kommen«, erläutert Strobel. Bei der Veranstaltung in New York gebe es viele wichtige Aspekte, die im Studium als Schlüsselqualifikationen zu kurz kämen. »Reden und Verhandeln sind wichtige Kompetenzen, die man später im Berufsleben braucht und die im Jurastudium sonst leider nur am Rande vorkommen«, führt Strobel aus. Zumeist erlernten sie Juristen erst im Referendariat oder in Praktika. Zudem werde durch die Konferenz der internationale Blick geschärft, auch wenn das Teilnehmerfeld diesmal deutlich kleiner gewesen sei. Strobel: »Durch die Pandemie war es jetzt eingeschränkt. Sonst kommen die Teilnehmer aus aller Welt«, resümiert die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht von Prof. Thilo Marauhn.