Die schlechteste aller Weltformeln

Gießen. Meine Studien zur Ethnologie des Inlands haben mir in jüngster Zeit jede Menge Beispiele für die unglaubliche Chuzpe mancher Autofahrer geliefert. Chuzpe ist ein Wort aus dem Hebräischen und bedeutet soviel wie Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit. Sie gehen davon aus, dass die Regeln für andere, die »Idioten der Ehrlichkeit«, gelten, aber nicht für sie.
Für viele Zeitgenossen stellen sie tatsächlich nurmehr »unverbindliche Vorschläge der Behörden« dar, wie Wolfgang Herrndorf einmal gesagt hat.
Manche Regeln haben aber ihren guten und lebenserhaltenden Sinn. Zum Beispiel die Farbenlehre der Ampeln oder dass man, bevor man die Autotür öffnet, schaut, ob von hinten gerade ein Radfahrer naht. Wir sind in unserem Alltag auf das angewiesen, was man die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel genannt hat. Ich sage: genannt hat, weil diese Fähigkeit heute kaum noch erworben wird und akut vom Aussterben bedroht ist. Diese Gesellschaft besprüht nicht nur ihre Felder und Früchte mit Pestiziden, sondern auch ihre Wertordnung mit »Ethiziden«, wie der britische Künstler John Berger einmal gesagt hat. Der Verkehr in einer hochmobilen Massengesellschaft funktioniert aber nur, wenn man sich grundsätzlich auf das richtige Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer verlassen kann. Juristen nennen das den Vertrauensgrundsatz, eine Form von Urvertrauen, dass wir nur mit erwartbaren Ereignissen zu rechnen haben und auch rechnen können.
Parklücke und Parkscheinautomat
Angesichts der raren Parkmöglichkeiten ist es einfach nur asozial, dass viele Autofahrer ihre Kiste so abstellen, dass eine Parklücke, die locker Platz für zwei Autos bieten würde, nur noch von einem genutzt werden kann. Sie lassen vorn drei Meter und hinten nochmal drei Meter Abstand zum nächsten parkenden Auto. Sie haben keine Lust, lange zu rangieren, sondern wollen später einfach wieder losfahren. Mir doch egal, ob andere noch eine Parkmöglichkeit finden.
Die meisten dieser Fahrer werfen nach meinen Beobachtungen auch keine Münzen in den Parkscheinautomat. Bei der emsigen Geschäftigkeit unserer Ordnungspolizei ist die Gefahr, erwischt zu werden, relativ gering. Und wenn, dann gibt’s halt in einem von zwanzig Fällen mal ein Knöllchen. Meine Empirie ergibt folgendes: Je PS-stärker das Autmobil, desto seltener wird die Parkgebühr entrichtet.
Ein alter Mann aus einem der Dörfer aus dem Umland legt brav den Parkschein in seinen alten Opel, der Business-Mann lässt die Tür seines SUV zufallen und geht davon. Ich kann übrigens mit einer hohen Treffsicherheit den Fahrer-Typ schon beschreiben, wenn der Fahrer noch mit laufendem Motor im Auto sitzt und seine Nachrichten über Lautsprecher abhört. Weithin ist das Quäken der Stimmen zu hören. Unablässig wird man genötigt, intimste Dinge mit anzuhören. Leute besprechen am Handy, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Gibt es überhaupt noch Intimität? Und Schamgefühle? Auf der Klaviatur der Gefühle ist die Taste Scham seit Langem schon defekt.
Manche Zeitgenossen glauben übrigens, dass eine eingeschaltete Warnblinkanlage sie zu allem berechtigt. Vor der Apotheke mal eben auf dem Radweg halten; mit eingeschaltetem Warnblinker kein Problem. Man will ja schließlich nur schnell mal reinspringen und ein Rezept einlösen. Die Warnblinkanlage ist für Notfälle gedacht und soll andere Verkehrsteilnehmer auf Gefahren aufmerksam machen. Sie ist nicht dafür da, in den Dienst der Bequemlichkeit zu treten und von der Verpflichtung zur Einhaltung von Regeln zu dispensieren.
Umwidmung der Hupe
Ähnlich verhält es sich mit dem Hupen. Auch die Hupe ist einmal ein Gefahrensignal gewesen, das andere warnen sollte. Heute heißt es: »Platz da, hier komme ich!« Jemand ärgert sich, dass ein anderer zu lang fürs Einparken benötigt und den Verkehrt aufhält. Ein erstes Hupen ertönt, zunächst zögerlich, dann immer drängender. Hinter dem Hupenden staut sich der Verkehr, und bald schwillt das Hupen zu einer gigantischen Klangwoge an.
Manche Hupen haben die Stärke von Schiffshörnern. Jemand hupt, weil er einen Bekannten am Straßenrand entdeckt hat, ein anderer, weil er jemandem mitteilen will, dass er ihn abholen möchte und unten im Halteverbot wartet. An der Ampel wird gehupt, wenn der Vordermann bei Grün Sekundenbruchteile zögert, bevor er losfährt. Menschen mit überschüssigem Temperament teilen mit lang anhaltenden Hupkonzerten mit, dass sie im Begriff sind, zu heiraten. Die Scheidung ein paar Jahre später geht leiser vonstatten.
Die eherne Regel, im Straßenverkehr nicht rechts zu überholen, wird inzwischen auch von Radfahren auf Rennrädern und E-Bikes gern ignoriert. Dadurch bringen sie sich und den Überholten in große Gefahr, denn man rechnet nicht unbedingt damit, dass jemand dort an einem vorüberschießt. Das hat schon üble Stürze zur Folge gehabt. Ich registriere bei mir, dass ich beim Radfahren nicht mehr nur über die linke Schulter zurückschaue, sondern auch über die rechte. Ich fühle mich zunehmend unsicher, ein Stück Urvertrauen ist verloren gegangen. Radfahrer, darüber werde ich tagtäglich belehrt, sind keineswegs die besseren Menschen. Manche sind nur verkappte Autofahrer - mit einer ähnlichen Mentalität unter dem Helm wie die Jungmänner in ihren abgedunkelten Kisten, die abends auf dem Anlagenring den Sound ihrer röhrenden Motoren genießen.
Der Schoß für Narzissten
Lange galt es als ein aussichtsloses Unterfangen, eine, ja die Weltformel finden zu wollen. Inzwischen wurde sie gefunden und sie lautet: »Ich, ich, ich und nochmals ich«. Es ist die jämmerlichste und schlechteste Weltformel, die sich denken lässt, weil es eine Weltvernichtungsformel ist. Eine Gesellschaft, die ihre Raison d’Être in der individuellen Nutzenmaximierung findet, darf sich allerdings nicht wundern, wenn ihrem Schoß vorwiegend Narzissten und Psychopathen entspringen, für die Mitgefühl und Rücksichtnahme Voodoo-Worte sind.
Ein halbwegs erträgliches Miteinander ist ohne ein Mindestmaß an Rücksichtnahme, Höflichkeit und Fähigkeit der Perspektivenübernahme nicht denkbar. Ich muss mich in die anderen hineinversetzen können und die Auswirkungen meiner Handlungen auf sie in mein Verhaltenskalkül einbeziehen, sonst droht das gesellschaftliche Leben unerträglich zu werden. Egoistische Lustgewinnmaximierung hält auf Dauer keine Gesellschaft zusammen. Der moralische Kitt, der für den Zusammenhalt einer Gesellschaft wesentlich ist, bröckelt gewaltig.
Kipppunkte der Zerstörung
Kipppunkte scheint es nicht nicht nur beim Klimawandel zu geben, sondern auch bei Prozessen der Gesellschaftszerstörung. Wenn die Anzahl der Gesellschaftsmitglieder, die sich nicht an Regeln halten, die Anzahl derjenigen übersteigt, die Regeln respektieren und noch wissen, »was sich gehört«, ist eine Gesellschaft verloren und wird untergehen. Schon die Formulierung: »wissen, was sich gehört«, wirkt inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Und das ist vielleicht bezeichnend für den Zustand, den ich beschreiben möchte.
Alles, was eine Gesellschaft zusammenhält, wird von der wertzynischen Motorik des Geldes zerrieben. Das wusste auch mal der Philosoph Peter Sloterdijk, der unlängst bei Christian Lindners Hochzeit auf Sylt die Festrede hielt. »Dem Geld ist alles egal«, schrieb er als junger Mann, und meinte das damals noch kritisch. Seit einiger Zeit geißelt er den Wohlfahrtsstaat als »kleptokratischen Steuerstaat« und feiert mit Leuten, welche sich weigern, die Bezüge der Ärmsten im Lande geringfügig zu erhöhen und auf deren Luxuskarossen und Privatjets die zynische Parole stehen könnte: »Eure Armut kotzt uns an!«
Der Gießener Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« im Gießener Verlag Wolfgang Polkowski erschienen ist. Foto: Polkowski
