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Die Seele ist nicht mitgeflohen

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Von: Ingo Berghöfer

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In der ESG haben sich rund 40 Ukrainer zu einer Weihnachtsfeier versammelt. © Ingo Berghöfer

Ukrainische Kriegsflüchtlinge treffen sich in Gießen zu ihrem ersten Weihnachtsfest in einem fremden Land. Sie erzählen von geplatzten Träumen, Einsamkeit und neu gefundenen Freunden.

Gießen. Am 20. Dezember lockert die Kälte, die Deutschland tagelang in ein eisig-nebliges Winterwunderland verwandelt hat, ihren Griff. Dem Frost folgt Dauerregen. Am gleichen Tag meldet das Oberkommando der ukrainischen Streitkräfte in seinem täglichen Morgen-Report russische Angriffe auf die Städte Stelmakhivka, Chervonopopivka und Serebryanske in der Region Luhansk sowie auf Opytne, Kurdumivka, Maryinka und Bachmut in der Region Donezk. Bachmut gilt als der am schwersten umkämpfte Ort der Front. Um den Durchhaltewillen zu stärken, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tags zuvor überraschend die belagerte Frontstadt besucht. Für seine Soldaten hat er Weihnachtsgeschenke und Orden mitgebracht.

Orden gibt es an diesem regnerischen Abend keine in der Evangelischen Studierenden-Gemeinde (ESG) in der Henselstraße, aber viel Wehmut und Heimweh. Rund 40 ukrainische Flüchtlinge haben sich zu einer kleinen Weihnachtsfeier versammelt, um vertrauten Liedern aus der Heimat zu lauschen. Die kommen nicht aus der Konserve, sondern werden gemeinsam zu Klavierbegleitung und Blockflöte gesungen. Musikalischer Höhepunkt des Abends ist aber ein längst zu Tode genudelter Pop-Song. Der 27-jährige Arthur macht mit seiner Gretsch-Gitarre aus dem »Wham!«-Schmachtfetzen »Last Christmas« eine leicht melancholische Rockabilly-Ballade, während Sängerin Anastasia mit ihrem gefühlvollen, professionellen - weil nicht zu dick aufgetragenen - Vortrag daran erinnert, dass es in diesem Lied eigentlich nicht um Lametta, sondern um den Verlust einer großen Liebe geht.

Geplatzte Träume

Anastasia singt nicht nur wie ein Profi, sie ist auch einer. Auf YouTube kann man ihren bislang größten Triumph sehen. Vor einem Jahr gewann sie »The Voice of Dnipro« und qualifizierte sich damit für das Finale des international beliebten und auch bei uns in Deutschland erfolgreichen Gesangswettbewerbs. Dort hätte sie in diesem Jahr ihren großen Auftritt gehabt, aber dann hat ein kleiner Mann hinter einer viel zu großen goldenen Tür im Kreml diesen Traum zerstört.

»Nun muss ich halt ›The Voice of Germany‹ gewinnen«, sagt die 19-Jährige, und das klingt aus ihrem Mund nicht großspurig, sondern selbstbewusst. Anastasia ist realistisch genug, um zu wissen, dass es keine Garantie gibt, dass aus ihr einmal die nächste Ariana Grande oder Selena Gomez wird, daher hat sie noch in der Ukraine ein Informatikstudium begonnen. Bis sie es in Deutschland fortsetzen kann, werkelt sie zu Hause an kleinen Robotern. Zuhause, das ist eine kleine Wohnung in Breidenbach bei Biedenkopf, in der sie mit ihrer Mutter und Oma untergekommen ist. »Einen Vater gibt es bei uns nicht«, sagt sie so bestimmt, dass sich Nachfragen erübrigen. Und sie lernt erst einmal Deutsch. Die Sprache des Landes, das sie und eine Million ihrer Landsleute aufgenommen hat, spricht sie schon so gut, dass die Dolmetscherin kaum unterstützen muss. Wenn Anastasia ein Wort nicht weiß, wechselt sie ins Englische, das sie exzellent beherrscht.

»Anastasia ist ein richtiges Genie«, schwärmt ihre beste Freundin Sophia. Kennengelernt haben sich die beiden gleichaltrigen jungen Frauen erst in Deutschland. Sophia kommt aus einem Vorort Kiews, unweit der zum Inbegriff russischer Kriegsgräuel gewordenen Vorstädte Irpin und Butscha. Auf ihrem Smartphone hat sie noch ein Video, das sie vom Balkon des heimischen Plattenbaus am Vorabend ihrer Flucht aufgenommen hat. Es zeigt einen ukrainischen Raketenwerfer, dessen Feuersalven die Nacht zum Tag machen.

Mit ihrer Mutter und dem 13-jährigen Bruder ist Sophia zunächst bis zur polnischen Grenze gefahren und acht Zugfahrten später schließlich bei ihrer Patentante in Marburg angekommen. Zurückgeblieben in Kiew sind der Vater und ihr sichtlich vermisster kleiner Hund. Dennoch hat sie ihn zurückgelassen, damit der Vater, der daheim die Stellung halten will, nicht ganz alleine ist.

Vor dem Krieg war der Vater Rechtsanwalt, jetzt ist der 51-Jährige arbeitslos. In Kriegen ist die Nachfrage nach Rechtsvertretern nicht sehr groß. Die ersten fünf Monate in Deutschland sei sie in ein tiefes Loch gefallen, erzählt Sophia. »Meine Freunde, mein ganzes Leben, das ist alles in Kiew geblieben.« Besser geworden sei es erst, als sie die Sprache ihres Gastlandes erlernt hat. Mittlerweile hat Sophia nicht nur deutsche Freunde gefunden, sondern auch einen Job an der Kasse eines Kleidungsdiscounters. Auch ihr vor zwei Jahren begonnenes Biologiestudium - in der Ukraine macht man bereits mit 17 das Abitur - will sie im nächsten Semester wieder aufnehmen und später dann vielleicht nach Südkorea ziehen.

Anastasia berichtet von Einsamkeit und Depressionen in den ersten Monaten in der Fremde. Auch habe jedes laute Geräusch immer wieder die Erinnerungen an die Schrecken in der Heimat geweckt. Begonnen hatten die mit einer Explosion am 24. Februar. Ihre Mutter sei an diesem Tag mit den Worten »Nastja, der Krieg hat begonnen« ins Schlafzimmer gestürmt. Am ersten Tag des Krieges hatte die russische Armee sämtliche Flugplätze im Land bombardiert, um die Luftabwehr auszuschalten.

Ursprünglich hatte die Familie gehofft, in der Industriestadt am Dnepr bleiben zu können. Immer wieder hätten sie in den ersten Tagen die Sirenen in den Keller getrieben, doch nie seien Bomben gefallen. Eine in Marburg lebende Tante habe sie jedoch gedrängt, nach Deutschland zu kommen. Als sie schließlich aufbrachen, war das keinen Tag zu früh, denn schon am nächsten Tag begannen massive Angriffe auf die Stadt.

In Marburg angekommen, hätten sie sich nach den ersten Tagen bei der Tante für ein halbes Jahr bei einer »sehr netten« deutschen Familie einquartiert, der sie immer dankbar bleiben werde, weil die sie wie Familienmitglieder aufgenommen habe. »Der Körper ist hier und die Seele ist in der Ukraine«, beschreibt Arthur seine Zerrissenheit. Zwei Monate vor Kriegsausbruch war der 27-Jährige wie viele Ukrainer ins Nachbarland Polen gegangen, um dort Geld zu verdienen. Nach Kriegsausbruch fuhr er zu einer Bekannten nach Gießen. Heute lebt er in einem kleinen Zimmer in einer Flüchtlingsgemeinschaftsunterkunft in Biebertal. Dort spielt er auch regelmäßig Gitarre in der Kirchengemeinde - nicht ganz seine Musik. Sein erklärtes Vorbild ist der Country-Gitarrist Chet Atkins.

Was der Front fehlt

Arthur steht in regelmäßigem Kontakt mit Freunden, die sich freiwillig gemeldet haben, um das Vaterland zu verteidigen. Was sie berichten, klingt nicht gut. »Es fehlt nicht an Menschen, sondern an Waffen«, sagt Arthur. »Was kannst du mit einem Maschinengewehr ausrichten, wenn von der anderen Seite eine Granate nach der anderen auf dich abgefeuert wird?«

Auch zwei von Anastasias Schulfreunden sind beim Militär. Ein dritter hat in einem russisch okkupierten und jetzt von der Ukraine befreiten Gebiet gelebt und berichtet Schlimmes. Er sei russischen Soldaten begegnet, die nicht gewusst hätten, worum hier eigentlich gekämpft würde. Sie seien so schlecht versorgt, dass sie an guten Tagen bei der ukrainischen Bevölkerung um Brot gebettelt hätten. An schlechten Tagen hätten sie sich nicht lange mit Fragen aufgehalten und sich einfach genommen, was sie wollten.

Angesichts solcher Erfahrungen würden viele Ukrainer denken: »Nur ein toter Russe ist ein guter Russe«, sagt Anastasia. Sie selbst sei jedoch überrascht gewesen, wie viele in Deutschland lebende Russen aber ihr und anderen Flüchtlingen geholfen hätten, hier Fuß zu fassen.

»Die Russen? Das sind zombifizierte Menschen, die Putins Propaganda eingesaugt haben«, widerspricht Arthur. Ihn verbittert, dass selbst in Deutschland lebende Russen den Krieg rechtfertigen würden. »Warum sind sie denn dann hier? Dann geht doch in euer geliebtes Russland.«

Beim ersten Stern

Wie werden die drei ihr erstes Weihnachten in der Fremde verbringen? Sophia wird an Heiligabend bei deutschen Freunden sein. Anastasia feiert Weihnachten sogar zweimal: Am 24. Dezember mit Freunden und am 7. Januar, dem traditionellen Weihnachtsfeiertag der orthodoxen Kirche, mit der Familie. Da gibt es das traditionelle Festmahl mit zwölf Speisen, sagt sie. Gegessen wird, wenn der erste Stern am Himmel erstrahlt.

Bevor sich die kleine, in der ESG versammelte Gruppe wieder zerstreut, stimmen alle noch einmal »Schtschedryk« an, das wohl bekannteste ukrainische Festtagslied. Kinder singen es vor jedem Haus und erhalten dafür kleine Geschenke. Die Ständchen sollen einsamen Menschen Trost spenden, vor allem aber Glück, Freude und Zuversicht für das neue Jahr verheißen.

Am 21. Dezember klettert das Thermometer in Bachmut wieder auf für diese Region fast frühlingshafte fünf Grad. Laut britischem Geheimdienst ist es russischer Infanterie offenbar gelungen, erstmals in der Stadt Fuß zu fassen. »Die Straßenkämpfe dauern an.«

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Erinnerung an bessere Zeiten: Anastasia zeigt ein Video von ihrem Auftritt in einer ukrainischen TV-Show. Fotos: Berghöfer © Berghöfer

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