»Die Solidarität ist überragend groß«

Die Ukrainische Gemeinde Gießen hat ihr Engagement seit Kriegsbeginn deutlich intensiviert und leistet wichtige humanitäre Hilfe. Was deren Mitglieder erzählen, ist erschütternd.
Gießen . Wenn es um Beistand für die Ukraine ging, drehte sich in den vergangenen Tagen fast alles nur noch um schwere Waffen. Denn die, so heißt es, würden eben besonders dringend benötigt, um sich der russischen Offensive wirkungsvoll entgegenstellen zu können. In dem unscheinbaren Raum von Gebäude A 15 an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) lagert freilich kein militärisches Gerät. Kreuz und quer stehen dort vielmehr etliche Kartons auf dem Boden und auf den Tischen, überbordend von Kleidung, Hosen, Jacken, Pullover, Schuhe, Babystrampler. Hin und wieder lugen Stofftiere oder anderes Spielzeug hervor. Die Ukrainische Gemeinde Gießen hat sich in der Wiesenstraße 17 - vom THM-Präsidium großzügig unterstützt - eingerichtet, um Spenden zu sammeln und damit den eigenen Landsleuten humanitäre Hilfe zu leisten - jenen, die bereits geflüchtet sind sowie jenen, die noch in der Heimat ausharren und ums Überleben kämpfen.
Propaganda hinterlässt Spuren
Die Demonstrationen und symbolischen Aktionen mögen im Vergleich zu den ersten Tagen von Putins völkerrechtswidrigem Angriffskrieg ein bisschen weniger geworden sein. Aber die Solidarität in der Bevölkerung ist nach wie vor »überragend groß, einfach unglaublich«, loben Chris Genzel und Pavlo Rozbytskyi. »Das haben wir so nicht erwartet«, räumen die jungen Männer ein, die gleichzeitig mit dem zögerlichen Verhalten der Bundesregierung hadern. Die beiden Studenten gehören zusammen mit Polina Turiyanskaya, Svitlana Bobkova und Oleksandr Bobkov sowie weiteren Mitstreitern zum »harten Kern« der etwa 100 Personen starken Gemeinde.
Gegründet nach der Annexion der Krim 2014 und den in der Donbass-Region aufgeflammten Kämpfen, habe sich deren Engagement nach einer zwischenzeitlich eher ruhigeren Phase seit Ende Februar mit der Eskalation des Konflikts »auf einem noch nie dagewesenen Niveau« wieder deutlich intensiviert. »Dadurch sind zudem alle Ukrainerinnen und Ukrainer enger zusammengerückt«, betont Genzel. Eindrücklich berichten sie allerdings auch von der großen Sorge um Verwandte und Bekannte zu Hause, von mordenden und plündernden russischen Soldaten, erbittertem Widerstand und entzweiten Familien, in denen die staatliche Propaganda des Kremls ihre Spuren hinterlassen hat. »Das Problem ist, dass viele Russen nicht akzeptieren wollen, dass das alles Lügen sind«, schimpft Oleksandr Bobkov und schüttelt energisch den Kopf.
»Untätig rumsitzen« wollte angesichts der aktuellen Situation niemand. »Also haben wir angefangen zu telefonieren«, sagt Pavlo Rozbytskyi. Bei Autohäusern sei angefragt worden, ob sie abgelaufenes Verbandsmaterial zur Verfügung stellen können, über Arztpraxen und Kliniken seien Medikamente beschafft und über Spenden Benzin für die Transporte finanziert worden. Auch haltbare Lebensmittel, Hygieneartikel und Campingausrüstung sind willkommen.
Vieles habe schon an die Grenze oder direkt ins Landesinnere der Ukraine gebracht werden können, »wo der Bedarf am größten ist«. Die Mitglieder der Gemeinde würden sich dabei als Team gut ergänzen, weiß Polina Turiyanskaya. »Die jungen Leute, fast alles Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation, können gut reden, rufen mit anderen Initiativen zu Demos auf, laden zu Benefizkonzerten ein, verteilen Flyer und haben ein Gefühl dafür, wie sie in Deutschland auf die Menschen zugehen müssen. Die Älteren kümmern sich hinter den Kulissen um Logistik und die Organisation von Hilfslieferungen, weil sie die Kontakte vor Ort haben.« Die THM-Studentin ist selbst regelmäßig zum Dolmetschen unterwegs und hilft bei Behördengängen. Dazu dienen auch eigens verfasste »Guidelines«, in denen Geflüchtete unter anderem erfahren, wohin sie sich wenden müssen, um sich anzumelden. Perspektivisch ist geplant, dauerhafte Strukturen zu etablieren, sich als Verein eintragen zu lassen, ein Kulturzentrum zu gründen, eine Sprachschule aufzubauen und als Gemeinde zu wachsen.
»Schwall von Hass und Unverständnis«
Die Gegenwart indes ist vor allem geprägt von dem Leid und den Schrecken des Krieges - sowie »vom postsowjetischen Denken eines ehemaligen KGB-Agenten, für den Menschenleben nichts wert sind«, meint Chris Genzel, der selbst russische Verwandte hat. Insbesondere bei älteren Russen sei es schwierig, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Während etwa die aus Russland stammende Mutter von Polina Turiyanskaya ihre Tochter und Schwiegersohn Pavlo Rozbytskyi bei Protesten begleitet, ist Genzel »ein Schwall aus Hass und Unverständnis« entgegengeschlagen, nachdem er in der Familien-WhatsApp-Gruppe geschrieben hatte, an einer Friedensdemo in Frankfurt teilzunehmen. »Wir sind mehr oder weniger aus der Familie ausgeschlossen worden. Plötzlich waren alle Ukrainer Mörder und Nazis. Das ist ein absolutes Paralleluniversum«, sagt der Wirtschaftsstudent der Justus-Liebig-Universität. Verwundert zeigt er sich darüber nicht. Propagandistisch sei der Angriff nämlich gezielt vorbereitet worden; das habe ihm sein bester Freund, ein Russe, bestätigt, der die Berichterstattung der staatlich kontrollierten Medien verfolgt habe. Demnach seien die Ukrainer »zunehmend entmenschlicht und wie der Westen dämonisiert worden«.
Verwandte von Chris Genzel, die noch in Cherson leben, hätten wiederum geschildert, dass sie sich in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Armee gar nicht aus ihrer Wohnung trauten. Denn vom Fenster aus hätten sie beobachtet, »wie russische Soldaten auf der Straße willkürlich Passanten erschossen«. Dort spiele sich »ein echter Genozid« ab, pflichtet Svitlana Bobkova mit leiser Stimme bei. Mit ihrem Mann Oleksandr betreibt sie in der Frankfurter Straße das »Reisebüro Kolumb«, eigentlich aber kommen sie aus Charkiw, einer wie Mariupol besonders heftig bombardierten Stadt. Einen Teil ihrer Familie haben sie inzwischen nach Gießen geholt, andere Bekannte sind geblieben. Ein befreundeter Arzt beispielsweise arbeite tagsüber in einer Geburtsklinik und wohne ansonsten im Luftschutzkeller, weil es in den eigenen vier Wänden, sofern diese noch stehen, zu gefährlich ist. »In Charkiw wird verstärkt auf zivile Wohngegenden gefeuert«, so Chris Genzel.
Dass Zivilisten offenbar absichtlich getötet werden, ist der Weltöffentlichkeit erstmals mit den publik gewordenen Massakern von Butscha bewusst geworden. Auch der Vater von Pavlo Rozbytskyi, der in der territorialen Abwehr in Kiew aktiv ist, hat die Verwüstung selbst gesehen: kaputte Panzerkolonnen, zerstörte Häuser und »überall tote Menschen«. Darüber hinaus sei aus den Wohnungen alles, was wertvoll erschien, gestohlen worden. Selbst vor der Unterwäsche von Frauen habe das russische Militär nicht halt gemacht.
Welcher Ausweg lässt sich nun überhaupt noch finden? Das vermag im Moment wohl niemand seriös zu beantworten. »In Anbetracht der Unmenschlichkeit, mit der Russland diesen Krieg führt, werden viele Ukrainer mit einer Kompromisslösung vermutlich nicht zufrieden sein«, glaubt Chris Genzel. Die Ziele beider Länder seien jedenfalls kaum miteinander vereinbar, und das, befürchtet er, werde »noch sehr viel Blut und Tod kosten«. Trotzdem sei die Hoffnung noch nicht verschwunden, gebe es auch positive Zeichen, sagt Svitlana Bobkova - und sei es nur, dass die Einwohner von Kiew und Irpin, wie auf manchen Fotos abgebildet, in Cafés sitzen oder Blumen pflanzen.
Kontakt: per E-Mail an hilfeukrainegiessen@gmail.com
S pendenabgaben sind in der Wiesenstraße 17 (THM-Gebäude A15, Erdgeschoss) montags bis samstags von 11 bis 16 Uhr möglich.