Die Vorgeschichte des Krieges

Gießen. »Aus einer rein wirtschaftlichen Logik heraus hätte es diesen Krieg nie geben dürfen«, stellt der Historiker Martin Schulze Wessel in der letzten Folge der aktuellen Ringvorlesungen fest. Doch warum wird dann seit fast einem Jahr so erbittert in der Ukraine gekämpft? Woher rührt die Brutalität der russischen Kriegsführung? Woher der Hass in der staatlichen Propaganda?
Der Gast aus München möchte die Gründe nicht alleine in der Geisteshaltung Wladimir Putins suchen. »Vielmehr glaube ich, dass er auch ein Repräsentant seiner Nation ist.« Schließlich könne man sich leicht auch eine andere Figur aus seinem Umfeld an der Staatsspitze vorstellen, die einen ähnlich aggressiven Weg einschlägt. Es müsse also mehr dahinterstecken als nur der Wahn eines Einzelnen. Doch was? Der Historiker schlägt dazu in seiner aktuellen Untersuchung »Der Fluch des Imperiums« einen langen geschichtlichen Bogen, mit denen er die Tiefenschicht des Phänomens zu ergründen versucht. Schulze Wessels neues Buch erscheint in wenigen Wochen, seine zentralen Thesen fasste er am Montagabend in der vollbesetzten Gießener Uni-Aula in einem pointierten Vortrag zusammen.
Dabei richtete er den Blick zunächst zurück bis ins frühe 18. Jahrhundert, als sich das russische Imperium unter Peter dem Großen herausbildete und zugleich ein »ideologisch aufgeladener Ost-West-Konflikt begann«. Während wir mit dem Stichwort Europa zumeist den Westen des Kontinents assoziierten, habe sich im Osten ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht zwischen Russland, der Ukraine und Polen entwickelt, skizzierte das Mitglied der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission. Dieses Geflecht sei bis heute entscheidend für das Verständnis der aktuellen Situation.
Der Historiker führte das Publikum von den gegensätzlichen Positionen der Dichter Alexander Puschkin (Russe) und Taras Schewschenko (Ukrainer) im 19. Jahrhundert über Lenins gescheiterten Versuch, eine föderative Sowjetunion zu schaffen bis zu Stalins brutal erzwungener Industrialisierung, die in den 1930ern zum ukrainischen »Holodomor« - einer Hungerkatastrophe mit Millionen Toten - führte. Stalin wollte damit den Ukrainern »eine Lektion erteilen«, wie der Diktator selbst formulierte.
Mit Chruschtschow wurden nach dessen Tod aus den russischen und ukrainischen »Brüdervölkern« eine »Völkerfreundschaft«: der zwanghafte Charakter dieser Verbindung sei damit gelockert worden, führte der Historiker aus. Fortan seien viele enge Beziehungen geknüpft worden, etwa durch Ehen. Doch nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich laut des Historikers diese Wege wieder getrennt. Sei die Ukraine schon aus historischen Mustern ebenso wie Polen an einer engeren Bindung an den Westen interessiert gewesen, habe das einstige russische Imperium den Gegensatz zum Westen nun neu verschärft. Dafür stünden etwa die Beschimpfungen eines libertären »Gayropa«, dem die russische Gesellschaft ein eigenes Modell entgegenstellen solle. Schulze Wessel folgert: Putin wolle das Imperium wieder auferstehen lassen, »doch ohne die zurückgewonnene Ukraine ist dieses Projekt gescheitert«. »Der Fluch des Imperiums ist damit die Bedingung für diesen Krieg.« Und die Prognose des Historikers fällt ernüchternd aus: »Es wird lange brauchen, bis Russland aus dieser imperialen Spur herausfindet.«
Zuvor ging Uni-Präsident Joybrato Mukherjee in seiner Einleitung »auf den Vorwurf uns gegenüber« ein, die Gäste der Ringvorlesung seien unausgewogen ausgewählt worden. Diesen »Vorwurf will ich zurückweisen«. Bei den sechs Gästen aus den Bereichen Politik, Wissenschaft und Kultur habe man sich um einen ausgewogenen, zugleich wissenschaftlich fundierten Mix bemüht. Kritik sei erwünscht, »falsch verstandene Ausgewogenheit kann aber nicht unser Ziel sein«. Wer eine Kontroverse suche, müsse »eben Anne Will schauen«. Zugleich wies Mukherjee auf eine Spendenaktion für die Partneruniversität in Kiew hin. Für ein dort dringend benötigtes Stromversorgungselement werden 20 000 Euro benötigt. Bislang seien 7000 Euro eingegangen. Die Einzelheiten zu der Aktion finden sich über die Homepage der Justus-Liebig-Universität.
