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»Die Zeit drängt«

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Von: Eva Pfeiffer

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Im Februar 1946 kamen in Gießen die ersten Vertriebenen mit einem Flüchtlingszug aus Mähren an. Wo sie siedelten, entstanden in vielen Städten Straßen mit Sehnsuchtsnamen: So wie die Sudetenlandstraße. Foto: Pfeiffer © Pfeiffer

Ein gemeinsames Projekt von JLU Gießen und dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung widmet sich Vertriebenen und Spätaussiedlern.

Gießen . Was macht es mit einem Menschen, wenn er seine Heimat verlassen muss? Wie wird über die eigenen Erlebnisse von Flucht oder Vertreibung in der Familie gesprochen? Und wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen? Das sind nur einige der Fragen, mit denen sich der Schwerpunktbereich »Historische Erinnerung und kulturelles Erbe: Vertriebene und Spätaussiedler in Hessen seit 1945« in den nächsten Jahren beschäftigen wird. Das Projekt ist eine Gemeinschaftsarbeit von Justus-Liebig-Universität (JLU) und dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung.

»Aus dem Blick geraten«

Das Thema sei in den vergangenen 30 Jahren »aus dem Blick geraten«, sagte Prof. Peter Haslinger, Projektleiter und Direktor des Herder-Instituts, bei der Vorstellung des Vorhabens. Dabei dränge die Zeit: »Noch stehen uns Zeitzeugen zur Verfügung.« Ihre Erinnerungen zu sichern, sei »Chance und Auftrag zugleich«. Dabei wollen sich die Forscher aber nicht nur mit der Erlebegeneration beschäftigen, sondern auch mit deren Kindern und Enkeln und dem gesamten sozialen Umfeld. Auch Studierende der JLU sollen in den Schwerpunktbereich eingebunden werden, etwa in dem sie zu dem Themenbereich in ihren Abschlussarbeiten forschen.

Der Schwerpunktbereich möchte einen Beitrag für die Erforschung der Geschichte Hessens wie auch zur Einbindung des Themas Integration von Vertriebenen und Spätaussiedlern in die vergleichende Migrationsforschung leisten. Neben den Vertriebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit sollen auch die verschiedenen Wellen der Spätaussiedler in den Blick genommen werden, inklusive der jüdischen Kontingentflüchtlinge.

Neben den Erlebnissen von Flucht und Vertreibung gehe es auch um das Ankommen und um »die Interaktion mit denen, die schon immer da waren«, sagte Hannah Ahlheim, Professorin für Zeitgeschichte am Historischen Institut der JLU. Zudem gehe es um die Frage, ob und wie sich Gesellschaft und Politik durch die Neuankömmlinge verändert haben.

»Neues altes Thema«

Gefördert wird das Projekt durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst. »Wir wissen noch nicht genug«, stellte Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) fest und verwies auf »eine große Forschungslücke«. Dabei gehörten Flucht und Vertreibung und die dadurch entstandenen Traumata zur Geschichte Hessens. »Der Verlust ihrer Heimat prägt viele Menschen bis heute, das Erlebte nagt an ihnen.«

Der Schwerpunktbereich sei daher auch eine »Forschung der Zukunft, für das Erinnern von Morgen«. Die Aufarbeitung der Vergangenheit könne dabei helfen, in Zukunft vieles besser zu machen.

Vertreibung sei »bedauerlicherweise ein neues altes Thema« in Europa, betonte JLU-Präsident Prof. Joybrato Mukherjee mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Stadträtin Astrid Eibelshäuser (SPD) verwies auf die besondere Bedeutung für Gießen durch das Notaufnahmelager. Nach 1945 habe man angesichts der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges vor der Herausforderung gestanden, überhaupt ausreichend Unterkünfte für die Gießener Bevölkerung bereitzustellen. Am 10. Februar 1946 kamen dann die ersten 1200 Menschen aus dem Sudetenland in Gießen an. »Das sind Zahlen. Aber nun werden die Erlebnisse der Menschen untersucht«, sagte die Stadträtin. Viele von ihnen hätten nach ihrer Ankunft Ausgrenzung erleben müssen.

Persönliche Verbindungen

Die Koordination des Schwerpunktbereichs hat Dr. Markus Krzoska übernommen. Drei Dissertationen werden im Rahmen des Projekts entstehen. Xenia Fink forscht zu »Aufnahme und Integration der Vertriebenen in drei hessischen Landkreisen«. Seit sie sich mit dem Thema beschäftige, habe sie immer wieder festgestellt, wie viele Menschen in Hessen persönliche Verbindungen zu Flucht und Vertreibung haben.

»Erinnerungsbilder über Flucht, Vertreibung und Integration in narrativen Interviews mit Vertriebenen und deren Nachkommen« lautet der Titel von Nora Themls Dissertationsvorhaben. Statt auf Archivquellen stützt sie sich vor allem auf »Oral History«, der Befragung von Zeitzeugen.

Hilke Wagner beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Erinnerung verändert, wenn sie ins Internet übertragen wird. Für ihre Arbeit »Transformationen von Erinnerungskultur durch Digitalisierung« wird sie daher auch Soziale Medien und Kommentarspalten im Internet auswerten.

Ziel ist auch die Erarbeitung spezieller Lehrkonzepte, die in den lokalen und regionalen Raum hineinwirken sollen. Auch die Arbeit des geplanten Lern- und Erinnerungsorts Meisenbornweg könne so unterstützt werden.

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