»Diese Nummer ist besonders«

Die Gießener Elektropop-Band »Übermut« stellt ihrn neuen Song »Sex« vor - mit einem aufwendigem Video und am Donnerstag live im Ulenspiegel.
Gießen. »Über Sex kann man nur auf Englisch singen«, so lautete einst ein Titel der Hamburger Indierockband Tocotronic. Ganz falsch - findet Christoph Jilo. Zusammen mit seiner Gießener Band »Übermut« hat der 54-Jährige gerade den Song »Sex« fertiggestellt, der sich gewitzt und augenzwinkernd mit diesem thematischen Dauerbrenner auseinandersetzt und dabei zugleich von einem aufwendig produzierten Videoclip begleitet wird. Vorgestellt wird das Stück an diesem Donnerstag bei einem Konzert (siehe Kasten) im Ulenspiegel. Für die Band mit ihrem eingängigen Elektropop im Stil der 80er soll es ein Neustart sein - mit dem sie auch überregional auf sich aufmerksam machen will.
Ein Pizzabote, der von der tief dekolletierten Kundin an deren Haustür ins Gespräch verwickelt wird. Ein Autofahrer, der bei der Polizeikontrolle an der Landstraße intensive Blicke mit dem Beamten tauscht. Und ein Sänger in Ledermontur und High Heels, der auf dem Minigolfplatz von der körperlichen Liebe singt - das sind die Bilder zum Song »Sex«, die an diesem Freitag online veröffentlicht werden. Dabei hat die Gießener Band um ihren Kopf und Sänger Christoph Jilo den hochprofessionellen Dreh zunächst gar nicht geplant, wie er erzählt. Doch nachdem er im vergangenen Jahr vier Songs ausproduziert hat, stellte er fest: »Diese Nummer ist besonders.« Musikalisch bezieht sich das Quartett dafür gut hörbar auf die 80er Jahre: Der Prince-Song »1999« wird ebenso zitiert wie der eingängige Synthie-Sound der Neuen Deutschen Welle. Mit den eigenen Sachen sei er eigentlich immer sehr kritisch, »aber selbst nach dem zehnten Hören von »Sex« habe ich gedacht: das funktioniert.« Zumal das behandelte Thema »ja auch viele Leute ansprechen müsste«, lacht der Musiker.
Doch ohne ein gutes Video gehe es heutzutage nicht. Also wurde ein junges Marburger Start-up mit dem Dreh beauftragt. Das deren Mitarbeiter teils selbst als Musiker aktiv sind, habe zusätzlich geholfen, um der Sache den nötigen Feinschliff zu verpassen. So sei »Übermut« nun an einem Punkt angelangt, an dem »wir gerne stärker aus Gießen hinausgehen wollen«, erklärt Jilo. Dafür müsse aber die Präsenz stimmen, nicht nur was Bühnenauftritte angeht. »Aber meine positive Energie ist groß«, verkündet der 54-Jährige - und strahlt sie schon beim Gespräch darüber aus.
Entstanden ist das Bandprojekt vor sechs, sieben Jahren, als Jilo in einer künstlerisch frustrierenden Phase steckte, wie er erzählt. Als kreativer Kopf stark in die Musicals des Fuldaer Unternehmens »spotlight« eingespannt, seien seine eigenen Bandprojekte damals fast gegen Null gelaufen. Also hat er sich zuhause ans Klavier gesetzt und alte Songs aus der Schublade geholt. »Bis dahin habe ich immer für andere geschrieben, doch ich hatte Bock, das Zeug selbst zu singen. So ging das los.«
Die dabei entstandenen ersten musikalischen Skizzen spielte er seinen Freunden vor. Und mit Bassist Manuel Steinhoff, Keyboarder Peter Bongard und Schlagzeuger Björn Hartmann hatte er schon bald »drei Topleute für das Projekt gewonnen, »die nicht nur daddeln können, sondern auch extrem stilsicher sind«. So habe das Quartett lange am Sound getüftelt, bis nach rund zwei Jahren das Gefühl entstanden ist, »jetzt steht das Ding«. Es gab erste Auftritte im Ulenspiegel, im Wetzlarer Franzis, im Licher Kino Traumstern. Weitere Anfragen kamen hereín, »es lief gut an«. Doch dann kam Corona.
Dafür bekam Jilo noch einmal Zeit, weiter am Sound und am »Übermut«-Profil zu arbeiten. Die Band ging ins Studio nach Lollar, spielte Aufnahmen zu neuem Material ein, buchte eine Fotosession. Dabei »habe ich gemerkt, die Musik wird artifizieller, bekommt etwas stilistisches«, erzählt Jilo. Das drücke sich auch in ihrer Visualisierung aus. Zu ihm als Sänger passe zudem das leicht Überdrehte, Überspannte, das er auch mit den 80ern verbindet. Etwa mit Robert Smith, dem Sänger der New-Wave-Band The Cure. Also hat sich Jilo für das Video die Fingernägel lackiert, die Lederklamotten übergestreift und sich in High Heels gezwängt. »Da waren ein paar Leute, die mich privat kennen, erstmal erschrocken« lacht er. »Aber für uns hat das gepasst.«
Es ist ein Teil des Projekts »Übermut«, das komplett in der Hand der Band liegt. »Denn was früher die Labels gemacht haben, musst du heute selber machen. Du musst schauen, dass die Leute Wind davon bekommen.« Mit dem Verkauf von Tonträgern sei längst kein Geld mehr zu verdienen. Auch ganze Alben werden immer weniger gehört. Vielmehr gehe es mittlerweile um den regelmäßigen Output an neuen Songs auf den Streaming-Portalen, um Playlists und Rotationen. »So hören dich auch die Leute, die dich noch nicht kennen.«
Für Jilo ist das Ganze nun ein Stück weit ein Experimentierfeld. »Man braucht einen unheimlich langen Atem.« Eine Homebase sei daher viel wert, aber natürlich auch begrenzt. Um »Übermut« jenseits Mittelhessens bekannter zu machen, »brauchst du vor allem einfach gutes Songmaterial. Und gutes Videomaterial«. Zugleich wünscht sich der Gießener vor allem, künftig wieder regelmäßig mit der Band auf der Bühne zu stehen. »Clicks und Kommentare im Internet sind ja eine schöne Sache. Aber der Austausch mit dem Publikum: das ist einfach unvergleichlich.«
Der Gießener Christoph Jilo ist auf vielen verschiedenen Bühnen zuhause. Viele Jahre lang tourte er als Schlagzeuger unterschiedlicher Bands durch die Lande. Zudem arbeitete der 54-Jährige als Komponist und Regisseur an verschiedenen Theatern, seit einigen Jahren vorrangig als Co-Autor, Dramaturg und Regisseur für die Fuldaer Produktionsfirma »spotlight musicals«, die mit Stücken wie »Die Päpstin« und »Der Medicus« alljährlich Tausende Besucher nach Osthessen lockt. In Gießen ist Jilo zudem als Veranstalter der literarisch-musikalischen Reihe »Stories.Wein.Musik« bekannt, deren nächstes Kapitel am 23. Mai aufgeschlagen wird. (bj)
»Sex« , der neue Song der Gießener Band »Übermut«, geht am Freitag, 28. April, als Stream und Video online. Zu sehen ist er dann über YouTube (youtu.be/zxKKdTfZ72Y). Zugleich wird die Veröffentlichung mit einem Konzert im Ulenspiegel am Donnerstag, 27. April, ab 20 Uhr gefeiert. Der Abend wird mit dem Marburger Elektro-Duo Evou eröffnet, bevor »Übermut« dann sein neues Material vorstellt. Weitere Infos unter uebermut-musik.de. (bj)