»Dieses Böse muss besiegt werden«

Ringvorlesung mit dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch in der Uni-Aula: In Gießen sprach er über die historischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland.
Gießen. Quasi sein ganzes Leben lang, sagte der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch bei seinem auf Deutsch gehaltenen Vortrag in der Gießener Uni-Aula, habe er auf diesen Satz gewartet: »Sie gehören zu uns.« Ausgesprochen hat ihn Ursula von der Leyen - drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar. Und so sehr sich Andruchowytsch über das Bekenntnis der EU-Ratspräsidentin freute, der Preis für seine Landsleute erweist sich als schier unermesslich hoch.
Der Schriftsteller, Essayist und Übersetzer, gerade zwei Tage zuvor mit dem bedeutenden Heinrich-Heine-Preis in Düsseldorf ausgezeichnet, zählt seit drei Jahrzehnten zu den wichtigsten literarischen Stimmen seines Landes. Nun nahm er die aktuelle Ringvorlesungs-Reihe zum Anlass, um in Gießen über die historischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zu sprechen, um Putins Expansionsdrang zu skizzieren und um einen Ausblick zu geben, auf das, was seine Heimat und Europa in den nächsten Jahren bevorsteht.
Mythos und Geschichte
Der präzise, sprachlich wie inhaltlich beeindruckende Vortrag des 62-Jährigen machte dabei deutlich, wie wenig der kollektive Westen über die geschichtliche, politische und gesellschaftliche Gemengelage auf dem Kriegsschauplatz Ukraine verstanden hat. Der in der West-Ukraine geborene und lebende Andruchowytsch schlug dazu zunächst einen weiten geschichtlichen Bogen, der bis ins Mittelalter reichte und von dort aus die Lage seiner Heimatregion durch die Jahrhunderte nachzeichnete. Immer wieder sah sich das Land demnach in die Zange genommen von Imperien, die Anspruch darauf erhoben: die aus der Mongolei stammende Goldene Horde, die Polnische und die Schwedische Krone, das Osmanische und das Habsburger Reich sowie auch das zaristische Russland.
Der gerade heute wieder in Moskau zu hörende Mythos von Kiew als Wiege der dreigeteilten russischen Nation - zusammen mit der Ukraine und Belarus - widersprach Andruchowytsch vehement. Stattdessen habe es immer wieder den Kampf um die eigene Unabhängigkeit gegeben, die schließlich 1919 auch Erfolg hatte - bis sie zwei Jahre später von der Roten Armee niedergeschlagen wurde und die Ukraine in der Sowjetunion aufging.
Der Weg zum eigenen Staat war dann 1991 erfolgreich - und wurde »nahezu ohne einen Tropfen Blut erreicht«, erinnerte der Schriftsteller an die Auflösung des sowjetischen Imperiums. Doch es war ein »aufgeschobener Schrecken«. Detailliert zeichnete Andruchowytsch nach, wie Russland seitdem immer wieder direkten Einfluss auf die Entwicklung in seiner Heimat nahm, kleinere verdeckte Kriege führte, eine korrupte Polit-Kaste stützte und alle Freiheitsbestrebungen der Ukraine untergrub.
Eine friedliche Koexistenz beider Nationen war für den Schriftsteller daher nicht möglich, weil Russland seiner Struktur nach ein »expansionistisches Wesen« sei, das in alle Himmelsrichtungen ausgreife. Im Angriffskrieg zeige sich daher »das alte Russland«. So führe die Ukraine heute folgerichtig einen »Krieg um seine Zukunft«, Putins Reich dagegen einen »um seine Vergangenheit«.
Ebenso erhellend war Andruchowytschs Analyse der Begrifflichkeiten, mit denen Putin operiert. Wie also lässt sich erklären, dass der Angriff auf die Ukraine mit den Nazis erklärt wird, die dort angeblich herrschen? Wie lässt sich erklären, dass die Ukraine - durch den Westen gesteuert - die Freiheit Russlands bedrohe? Für den Schriftsteller zeigt sich darin die Umdeutung der Verhältnisse. »Russlands Spezialität ist es, immer andere dessen zu beschuldigen, was es selbst tut.«
Tatsächlich zeigten sich im Regime Wladimir Putins alle Anzeichen des Faschismus, wie sie der Italiener Umberto Eco in 14 Punkten definiert hat. Dazu zählen etwa die Ablehnung der Moderne und des Pluralismus, das geschürte Gefühl einer von außen gesteuerten Bedrohung, Rassismus sowie ein »Neusprech«, wie er aus George Orwells 1984 bekannt ist und etwa im Verbot, den Krieg einen Krieg zu nennen, erkennbar ist.
So zeige sich in Putin selbst eine Entwicklung vom autoritären nationalistischen Führer zum faschistischen Imperator. Über Russlands System und Zukunft macht sich der Vortragsredner daher keine Illusionen. »Die Ukraine wählte die demokratische Republik, Russland das despotische Imperium. Jedem das, was ihm gefällt.«
Die Folgerung seiner Analyse lautet daher unmissverständlich: »Das Böse muss besiegt werden.« Und das sitze als Bedrohung aller westlichen Werte in Moskau. Wie Andruchowytsch dazu im anschließenden Gespräch mit Prof. Peter Haslinger, Direktor des Marburger Herder-Instituts für Ostmitteleuropaforschung, erklärte, brauche es dafür in Deutschland und dem Westen » Standfestigkeit, Mut, Tapferkeit. All das, was die Ukraine gerade zeigt.« Was die Zukunft des großen Nachbarn Russland angeht, zeichnet der Schriftsteller dagegen ein düsteres Bild. Auf die Frage eines jungen Russen aus dem Publikum, ob denn irgendwann auch wieder eine friedliche Koexistenz beider Länder möglich sei, antwortete er: »Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Das müssen Sie die Menschen in Butscha und Irpin fragen.«
Und an das deutsche Publikum gerichtet, mahnte der Gast: »Die Freiheit ist immer bedroht. Es ist eine Täuschung zu glauben, wenn man in einem freien Land auf die Welt kommt, wird dieser Idealzustand für immer so anhalten.«
Der Gastvortrag von Juri Andruchowytsch ist über die Homepage der Justus-Liebig-Universität weiter abrufbar: www.uni-giessen.de/ ringvorlesung.
Die Ringvorlesung unter dem Titel »Unser Krieg? Die Zukunft der Ukraine und die Neuordnung der Welt« wird am kommenden Montag, 19. Dezember, um 19.15 Uhr mit der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags, in der Uni-Aula fortgesetzt. (bjn)
