Durch den Wilden Westen

In unserer Reihe »Kritik des Ortes« geht es diesmal auf einem Fußweg an der Wieseck entlang zu einem Kulturdenkmal. Doch der Pfad dahin ist nichts für schwache Nerven.
Gießen. Wer den Weg hinaus ins Freie und Offene anstrebt, sollte einmal versuchen, von der Bahnhofstraße zu Fuß hinüber auf die andere Seite zu gelangen. Und damit zwar nicht über den Jordan gehen, aber doch immerhin an der Wieseck entlang bis in das ruhige Wohngebiet an der Siebold- und Schuppstraße, das stadtauswärts hinter den Gleisen liegt. Allerdings: Dieser Durchgang ist nichts für schwache Nerven.
Hier, zwischen einem Schuhgeschäft, einer Haushaltswarenkette und einem Friseur schlängelt sich der Bachlauf einige Meter unterhalb der Straße weitgehend unbemerkt hinaus in Richtung Lahn. Parallel dazu führt ein abenteuerlicher, manch einen auch beklemmender Pfad hinaus aus der Stadt. Mitten in Gießen: 200 Meter Wilder Westen.
Das zeigt sich schon am Entree des Durchstichs, einer Art Terrasse aus Asphalt. Für Müßiggang oder schweifende Blicke gibt es allerdings nichts zu entdecken: Hinter der schlammig-grauen Winter-Wieseck liegt ein noch grauerer Parkplatz für einige dahinter aufgereihte Discounter, beschirmt von einem tiefgrauen, tiefhängenden Winterhimmel. Kann gut sein, dass sich hier Autorin E.L. James Anregungen für ihre Erotik-Bestseller geholt hat. 50 Sorten Grau, 50 Shades of Grey, sind an diesem Ort jedenfalls locker auszumachen.
Hier gibt es nichts zu sehen
Also lieber zügig weiter, den Fußweg entlang, um diesem Unort in Richtung Westen zu entfliehen. Und zunächst sorgen tatsächlich ein Hinterhof und ein paar Garagen für Spuren von intakter Stadtzivilisation. Doch schon bald wird es ruppiger, struppiger, ungemütlicher. Ein einzelner Socken saugt sich mit dem Wasser einer Regenpfütze voll. Ein mit rissigen Aufklebern bestückter Papierkorb dient höchstens noch Halbstarken, um darin irgendetwas abzufackeln. Hingeschmierte Graffiti, Müll auf dem Boden, der angrenzende Aufgang eines Parkhauses: Alles hier atmet den Geist des Unfertigen, Improvisierten, Zerfallenden.
Doch was ist mit dem Wasserlauf, der doch wenigstens für etwas Augenschmeichelei zwischen all dem menschengemachten Notbehelf sorgen könnte? Nichts da. Das Wasser fließt an dieser Stelle scheinbar besonders schnell, um endlich in der Lahn aufzugehen und das ganze Elend so schnell wie möglich zu vergessen, das es hier im Vorbeigurgeln zu sehen bekommt.
Bleibt noch die wild wuchernde Pflanzenwelt, die immerhin einen Versuch unternimmt, gegen all die Grau- und Brauntöne anzukämpfen. Bäume und Gestrüpp wachsen zwischen Pfad und Ufer ungezügelt in alle Richtungen und versuchen, den Ort für sich einzunehmen. Vergeblich. Alle Farben scheinen dieser Szenerie entzogen, selbst das Blattgrün wirkt ermattet.
Doch dann bietet der Pfad eine große Überraschung. Zu entdecken ist eine mächtige Eisenbahnbrücke mit dreifacher Rundwölbung, die Züge trockenen Rades über die Wieseck bringt. Entstanden ist sie im Zuge des Ausbaues der 1852 gebauten Main-Weser-Bahn. Zu einer Zeit also, als auch anderswo der Wilde Westen durchquert wurde.
Gießens Stadtverwaltung und Stadtarchiv haben für diese Ortskritik dazu dankenswerterweise ein paar harte Fakten zusammengetragen. Darunter folgenden Text: »Die imposante, steil proportionierte Steinkonstruktion (Viadukt), die unmittelbar am alten Einfluss des städtischen Ausgerinnes in die Wieseck liegt, erfüllt mehrere Funktionen: Sie überquert den Unterlauf der Wieseck, lässt Raum für einen Fußpfad Richtung Lahn (Unterführung mit Treppenanlage) und gleicht den Höhenunterschied zwischen dem Seltersberg und dem sog. Hamm, der Flussniederung aus.« So liest es sich auf der Internetseite des Landesamtes für Denkmalschutz. Denn tatsächlich wurde die Bahnbrücke »aus geschichtlichen Gründen« als Kulturdenkmal ins Denkmalverzeichnis des Landes Hessen eingetragen.
Wer sie durchquert, kann angesichts der Patina ihres stabilen Mauerwerks aus rotbraunen Ziegeln schon mal ins Staunen kommen. Wie viele Züge mögen hier in mehr als 150 Jahren drübergerauscht, wie viele Menschen auf dem Weg darunter unterwegs gewesen sein? Ein paar von ihnen geben sich übrigens gleich hinter der Brücke namentlich zu erkennen: Öriem, Bemad, RMK, Yesh und noch irgendwas Hingeschmiertes. Es sind Tags, Signaturen von Sprayern, die sich so der Nachwelt in Erinnerung rufen wollen. Mit eher zweifelhaftem Erfolg.
Schon ist die Bedrückung zurück
Und schon ist die Bedrückung zurück. Dazu tragen weitere Details der Kulisse bei: Papier und Glasflaschen, überall hingepappte Aufkleber, ein dampfender Schornstein, die schwarzen, in den Himmel ragenden Bahndrähte. Und vor allem ein krummer Drahtzaun, der das Betreten einer wie sinnlos hingegossenen Betonfläche ins Nirgendwo verhindert. Doch was hätte man dort schon gewollt?
Der ganze Behelf, den dieser Nicht-Ort ausstrahlt, ist von atemberaubender Tristesse. Und das nicht erst seit gestern. Eine Recherche des Stadtarchivs deutet daraufhin, »dass der Weg in den 1980er Jahren (aus-)gebaut wurde«. Der erste dort zugängliche Plan, der den Fußweg nachweist, stammt demnach von 1988. Dabei wurde bereits 1982 ein Bauplan für eine Umgestaltung des Bahnhofsvorplatzes erstellt, der das Gebiet bis zur Wieseck einbezog. Der Weg könnte laut Stadtarchivar Christian Pöpken also auch schon früher als Pfad genutzt worden sein.
Doch dann bietet dieser Pfad durch Gießens Wilden Westen noch eine zweite Überraschung. Drüben, nach einer steilen Treppe endlich auf der anderen Seite angekommen, tut sich eine neue, harmonischere Welt auf. Selbst die Wieseck scheint hier, an einem die Schuppstraße begrenzenden Wiesenstück plötzlich ein bisschen Farbe zurückzugewinnen. Und ein paar Hundert Meter weiter stößt der Fußgänger, wenn schon nicht auf das Gold verheißende Eldorado, so doch immerhin auf die idyllische Wieseck-Mündung in die Lahn.
In der Reihe »Kritik des Ortes« widmen sich Rüdiger Dittrich und Björn Gauges in unregelmäßigen Folgen besonderen, aber nicht unbedingt besonders schönen Orten, die in Gießen zu entdecken sind.