Ein Dach und neue Perspektiven

Der Gießener Verein »Aktion Perspektiven« hilft obdachlosen jungen Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren. In dem sozialpädagogisch betreuten Heim sind zurzeit alle Plätze belegt. Ein Besuch.
Gießen. Wenn junge Frauen obdachlos werden, schlafen sie selten unter der Brücke. Sie landen bei Männern, mit denen sie sonst nicht zusammen wären, zu dritt in einem winzigen Zimmer oder in der Psychiatrie. In Gießen bietet ein Verein den Frauen ein sicheres Dach über dem Kopf und Perspektiven für die Zukunft.
Silke F.* meldete sich in ihrer Verzweiflung beim Frauenhaus: Ihre Mutter misshandelte sie seit frühester Kindheit, drohte immer wieder damit, sie umzubringen. Ihr Vater kontrollierte und reglementierte sie derart, dass sie auch als Volljährige kaum weggehen durfte. Weil sie für das Frauenhaus zu jung war, kam sie zum Verein »Aktion Perspektiven für junge Menschen und Familien« in Gießen. Seit Juni wohnt sie nun gemeinsam mit sechs weiteren Frauen in einem denkmalgeschützten Haus in der Gießener Innenstadt. »Eine Erleichterung«, sagt die heute 21-Jährige.
»Ich wollte eigentlich schon als Jugendliche ausziehen«, erzählt Silke F. Stattdessen wurde sie depressiv, bekam Alpträume und schlimme Bauchschmerzen, für die kein Arzt einen körperlichen Grund finden konnte: »Hätte ich es weiter zuhause ausgehalten, wäre ich zugrunde gegangen«, sagt sie. In der Wohngruppe sind die Beschwerden besser geworden. Auch das Weinen, das sie gar nicht mehr kontrollieren konnte, hat nachgelassen. Trotz des Umzugs schaffte sie die Fachoberschule und macht nun ein Berufsvorbereitungsjahr. Ihr Ziel: eine Ausbildung als Kfz-Mechatronikerin. »Ich mag das Schrauben«, sagt die 21-Jährige.
Silke F. ist eine der jungen Frauen, die in zwei Wohngruppen in Gießen leben. Gegründet wurden die sozialpädagogisch betreuten Wohnheime bereits vor 35 Jahren. Damals kam eine von der Gießener Frauenbeauftragten initiierte Studie zu dem Ergebnis, dass Angebote für wohnungslose junge Frauen komplett fehlen: »Das Problem wird bis heute völlig unterschätzt«, sagt Astrid Dietmann-Quurk, ehemalige Geschäftsführerin des Vereins »Aktion Perspektiven«: »Junge Frauen schlüpfen halt irgendwo unter - bei Freundinnen, bei irgendwelchen Typen. Wir hatten sogar schon Fälle, wo Frauen in die Prostitution gedrängt wurden.«
In dem sozialpädagogisch betreuten Wohnheim und der Außenwohngruppe ist Platz für elf Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren. Einzugsgebiete sind in erster Linie die Stadt und der Landkreis Gießen, aber auch andere hessische Landkreise. Derzeit ist das vor allem vom Landeswohlfahrtsverband finanzierte Wohnheim voll belegt. In Einzelfällen, in denen das Jugendamt zuständig ist, übernimmt dieses auch die Kosten.
Silke F. geht es deutlich besser, seit sie in der Wohngruppe lebt. Betreuerin Sophie Weckmüller freut sich immer, wenn sie das Lachen der jungen Frau hört, die sich leicht in das WG-Leben eingefunden hat: »Ich kann hingehen, wohin ich möchte, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen«, sagt die 21-Jährige. Dennoch gibt es natürlich Regeln in der Wohngruppe. Alkohol und Drogen sind tabu. Männer dürfen angesichts der Gewalterfahrungen von einigen Bewohnerinnen nicht mitgebracht werden. Und - sofern sie nicht arbeiten oder in Ausbildung sind - müssen sie sich dreimal pro Woche an internen Aktivitäten teilnehmen. Regelmäßig werden Spaziergänge, ein gemeinsames Frühstück und kreative Beschäftigungen angeboten. Hauptziel: Wieder eine Tagesstruktur in den Alltag zu bekommen. Einige müssten neu lernen, morgens rechtzeitig aufzustehen, Aufgaben zu erledigen und Termine bei Behörden wahrzunehmen: »Das ist für manche eine große Herausforderung«, sagt Weckmüller. Wer die Regeln grob verletzt, kann seinen Wohnplatz verlieren.
Für Silke F. ist das kein Problem: »Hier gibt es Regeln, die aber logisch sind«, sagt sie. Und dass sich jede Bewohnerin auch an Küchen-, Putz-, Hof- und Kellerdiensten beteiligen muss, findet sie selbstverständlich. Mit einigen Frauen aus der Wohngruppe hat sie sich angefreundet. Sie gehen zusammen in die Stadt oder schauen witzige Videos. Manchmal seien sie so albern wie die Simpsons, deren Bild an der Wand im Gemeinschaftszimmer hängt, erzählt sie. Regelmäßig geht sie zudem zu einem Psychologen. Eines ist ihr dabei noch wichtig: »Man ist nicht schuld daran, wenn man misshandelt wird«, sagt sie.
Die Probleme, mit denen die jungen Frauen in der Wohngruppe zu kämpfen haben, sind vielfältig. Sie sind zuhause rausgeflogen, kommen aus Pflegefamilien oder nach Trennungen, waren obdachlos, in der Notübernachtung, in Heimen oder Kliniken. Zunehmend kommen auch Frauen nach Psychiatrieaufenthalten in die Wohngruppe. Familiärer Rückhalt fehlt fast immer. Auch soziale Ausgrenzung haben fast alle erlebt. »Gerade die jungen Leute sind oft total überfordert mit ihrer Lebenssituation, sind auch oft überschuldet«, sagt Sozialpädagogin Weckmüller, die bei den wohnungslosen jungen Frauen eine hohe Dunkelziffer vermutet: »Wir bieten ihnen einen Rahmen, in dem sie zur Ruhe kommen können.«
Regina B. war mehr als zwei Jahre in der Außenwohngruppe. Auch sie landete in Gießen, nachdem es in ihrem Elternhaus »gar nicht mehr ging«. Die heute 31-Jährige hat ursprünglich Helferin in der Hauswirtschaft gelernt. Durch eine Erkrankung hat sie Mühe, sich zu konzentrieren. Sie durchlief das interne Programm, kam zur Jugendwerkstatt, absolvierte Praktika und arbeitete in der Küche eines Hotels. »Ich muss Schritt für Schritt gehen und erst einmal ein bisschen nachdenken« sagt die 31-Jährige, die eigentlich dazu neigt, übersprudelnd zu erzählen.
Obwohl Regina B. inzwischen ausgezogen ist, fühlt sie sich in der Wohngruppe bis heute willkommen: »Die Gespräche mit den Betreuerinnen haben mir sehr geholfen«, sagt sie: »Man wird gehört, verstanden und ernst genommen.«
Werktags von 8 bis 18 Uhr ist immer eine der drei Sozialpädagoginnen vor Ort, dazu kommt ein halber Samstag, an dem die WG gemeinsam frühstückt. Unter der Woche gibt es ein Gruppengespräch, diverse Angebote, Unterstützung beim Gang zu Arbeitsämtern, Ärzten, Therapieplatzsuche und Behörden sowie viele Einzelgespräche. Meist finden sie unter dem Frauen-Power-Bild im Büroraum statt, das eine frühere Bewohnerin hinterlassen hat. Um das Kochen und Einkaufen kümmern sich die Frauen mit einem Essensgeld von täglich 6,20 Euro selbst. Zudem gibt es ein Taschengeld von rund 150 Euro im Monat. Dankbar angenommen werden die über Stiftungsgelder finanzierten Abende, an denen studentische Honorarkräfte mit den Frauen kochen, backen, Filme schauen oder spielen.
Regina B. arbeitet inzwischen in einer Werkstatt der Lebenshilfe - auf dem ersten Arbeitsmarkt war der Druck für sie doch zu groß. Seit Oktober hat sie eine eigene Wohnung, neuerdings auch einen Freund. »Ich bin es gar nicht gewöhnt, so viel Platz zu haben«, staunt die junge Frau. Eine eigene Wohnung - zumindest in der Zukunft - wünscht sich auch Silke F., die ergänzt: »Und einen guten Job und drei Kinder.«
(* Namen von der Redaktion geändert)
Die Gründung des heutigen Vereins »Aktion - Perspektiven für junge Menschen und Familien« geht auf sozial engagierte Gießener Pfadfinder zurück, die bereits in den 50er Jahren begannen, sich um jugendliche Inhaftierte in der hessischen Jugendstrafanstalt Rockenberg zu kümmern - ein für damalige Zeiten einzigartiges Experiment. Die ersten Jugendwohngruppen für jugendliche Haftentlassene wurden in den 70er Jahren gegründet. Es folgten Wohngemeinschaften für gefährdete Jugendliche, Modellprojekte, Anlauf- und Beratungsstellen, betreutes Einzelwohnen, ein Jugendtreff, Wohngruppen für junge Frauen, eine Männerwohngruppe in Wetzlar, eine Kontaktstelle für Familien in der Gießener Nordstadt, Angebote für Eltern sowie ambulante Erziehungshilfe. Heute ist ein Team aus Fachkräften für soziale Arbeit in insgesamt zehn Projekten aktiv. Nach wie vor werden sie von Ehrenamtlichen unterstützt. (gc)
