Ein Fenster in die Vergangenheit

Deutschlandweit vorn: Das Oberhessische Museum hat ein digitales Pilotprojekt zu Gießens Stadtgeschichte gestartet.
Gießen. »Wir brauchen damit nicht hinter dem Berg zu halten, sagt Mario Alves vom Team des Oberhessischen Museums. »Mit diesem Projekt haben wir etwas Einzigartiges geschaffen.« Gemeint ist ein Audiowalk, der die Besucher des Alten Schlosses über ein Tablet durch das Gießen von früher, noch früher und ganz früh führt - und damit zugleich den Blick in die Zukunft virtueller Ausstellungswelten richtet. So hat das Oberhessische Museum ein neuartiges Experiment gestartet, das von den Besuchern nach Anmeldung ab sofort ausprobiert werden kann.
Bei einem Presserundgang stellten nun das Museums-team um Dr. Katharina Weick-Joch sowie das Berliner Gestaltungsbüro Studio Neue Museen das Projekt im Beisein von Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher vor. Im Digitallabor im Erdgeschoss werden den einzeln eintretenden Besuchern dazu ein Tablet sowie Kopfhörer ausgehändigt, mit denen sie durch den Raum geleitet werden. Ihr Guide ist die Gießener Studentin Lina. Sie ist 25 Jahre alt, Besitzerin eines Kleingartens und soll einen Artikel für die Uni-Zeitung über ihre Heimatstadt schreiben.
Zugleich ist sie eine virtuelle Figur, von denen künftig drei weitere hinzukommen werden, die mit unterschiedlichen Charakteren unterschiedliche Geschichten erzählen. Während Linas Stimme nun also die Gäste durch den Raum geleitet, zieht zugleich ein Schmetterling auf dem Display des Tablets seine Spur, der jeweils anzeigt, an welcher Station man sich gerade befindet und wohin man sich von dort aus bewegen soll.
Zunächst geht es zu einem auf einem Sockel platzierten Holzpfahl, mit dem einiges über den Siedlungsbeginn vor rund 900 Jahren zu erfahren ist. Weiter führt der Weg zum großen Stadtmodell, anhand dem Lina die Entwicklung Gießens anschaulich macht. Und während man als Besucher das Tablet auf das Modell richtet, zeigen sich dort Bilder, die etwa den Zuwachs an Häusern über die Altstadtgassen hinaus im Laufe der Jahrhunderte abbilden. Von dort geht es zu einem Modell des in den 1960ern abgerissenen Volksbads, das auf dem Tablet wiederaufersteht, während die gezeichnete Lina auf dem Fahrrad zu diesem Ort unterwegs ist. Und auch ein Blick aus dem Fenster gestattet über das Tablet tatsächlich eine Idee von Gießens Vergangenheit.
»Es ist eigentlich mehr als ein Audiowalk, wir haben nur noch kein Wort dafür«, sagt Andreas Haase vom Berliner Gestaltungsbüro Studio Neue Museen. Schließlich betrete man mit diesem Projekt komplettes Neuland. Dabei haben sich die Entwickler zunächst überlegt, was in dieser Ausstellung genau über die Stadt erzählt werden soll, und erst dann eine passende digitale Form dafür gesucht. Dazu wurde die Drehbuchautorin Jenny Alten angeheuert, die den virtuellen Charakteren eine persönliche Geschichte verleiht und bei ihnen damit »eine Entwicklung wie in einem Kinofilm in Gang setzt«, erläutert Haase. Der gesprochene Text steuere dabei das Lauftempo des Besuchers, die Bilder des Tablets reagierten auf getrackte Raummuster, ergänzt Jelena Milunovic, die für die Illustrationen von Linas Welt zuständig ist. So erzählt die Studentin nun unter anderem von ihrer Großmutter, die noch selbst im Volksbad schwimmen gegangen sei.
Rund 15 Minuten dauert dieser Rundgang, wenn man Lina ohne Pause folgt. Es soll nur der Anfang sein, die Geschichten der vier Figuren lasse sich weiter ausdehnen, berichtet Museumsleiterin Weick-Joch. Im Zuge der Neugestaltung des Museums zieht das Stadtmodell künftig ins Wallenfels’sche Haus, wo die digitale Führung dann ebenso wie im angrenzenden Leib’schen Haus zur Nutzung durch die Stockwerke einladen soll. Wie sich das alles im Detail entwickelt, vermag Projektleiter Haase derzeit aber noch nicht zu sagen. Dazu sollen zunächst Erfahrungswerte analysiert werden. »Da sind wir sehr gespannt auf die Kommentare der Besucher.«
Möglich geworden ist dieser digitale Stadtrundgang durch das vor einem Jahr gestartete und von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz koordinierte Projekt museum4punkt0, an dem inklusive Gießen bundesweit 27 Häuser beteiligt sind. So entstand ein Netzwerk, in dem sich die Teilnehmer austauschen und auf Ergebnisse zugreifen können. »Was wir hier erarbeitet haben, stößt bei den Kollegen auf reges Interesse«, berichtet Weick-Joch. Zudem werde das Projekt im Mai im Kulturforum Berlin vorgestellt.
OB Becher zeigte sich von den ersten Resultaten begeistert. »Wir sind da quasi am Puls der Zeit.« Zumal es angesichts der Herausforderungen, die die Arbeit an der neuen Dauerausstellung bereithalte, »ein Kraftakt für das ganze Team war. Ich zolle Ihnen dafür höchsten Respekt.«
Die digitale Führung kann ab sofort im Alten Schloss ausprobiert werden. Öffnungszeiten des Museums sind dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr. Wegen der begrenzten Anzahl der Tablets wird um Anmeldung auf museum.giessen.de gebeten.