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Ein Fenster nach draußen

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Von: Björn Gauges

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Slata Roschal (links) im Gespräch mit Moderatorin Vera Stelter vom Gießener Büro für Integration. Foto: Gauges © Gauges

Gießen. Wer bin ich und wenn ja wie viele? Wenn es nach der Deutsch-Russin Slata Roschal geht: eine ganze Menge. Viel wichtiger für sie aber: Wer ist sie nicht? Die 1992 in St. Petersburg geborene, 1997 mit ihren Eltern nach Deutschland gekommene und mittlerweile in Bayern lebende Schriftstellerin stellte am Dienstagabend auf Einladung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) ihren mit zahlreichen Auszeichnungen bedachten Debütroman »153 Formen des Nichtseins« vor.

Im Gespräch mit Moderatorin Vera Stelter vom Büro für Integration stellte sie sich dabei zudem dem Thema Identität und Zuschreibung, das in ihrer Lesart ein ungemein komplexes und kaum zu fassendes ist.

Roschals Ich-Erzählerin Ksenia ist ebenfalls Deutsch-Russin, die zudem jüdische Wurzeln hat, unter Zeugen Jehovas aufgewachsen ist und nach der Übersiedlung in das fremde, neue Land weit unten auf der sozialen Leiter steht. Doch die Autorin hat diese Geschichte nicht in eine geschlossene Prosaform gegossen, sondern collageartig exakt 157 titelgebende Kapitel zusammengefügt, die sich zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung bewegen. Dazu gehören neben kurzen Erzählstücken etwa auch Gebetstexte, Gedichte, Lieder und sogar das Pressestatement eines CSU-Generalsekretärs.

Wie Roschal berichtete, hat sie zunächst ein Dutzend Kapitel für dieses Buchprojekt geschrieben, doch bald hat sich immer mehr dazu passendes Material angesammelt, das sie auf Zetteln notiert und mit Farben markiert hat. So konnte sie mit einer Mischung unterschiedlicher Textformen einen eigenen Rhythmus, einen eigenen Klang entstehen lassen, der diesen von der Kritik hochgelobten Entwicklungsroman ausmacht.

Zu den konventionellen, zugleich aber sprachlich subtilen Prosastücken gehört dabei etwa die Beziehung der 18-Jährigen zu einem rund doppelt so alten Mann mit russisch-armenischen Wurzeln. Er hängt einem traditionellen Geschlechterbild an und markiert für sich die Rolle des starken Mannes. Dieser Georgi wünscht sich seine junge Freundin weniger auffällig geschminkt, schlichter gekleidet und sexuell devot. Mal nennt er sie abschätzig Frau, dann wieder Mädchen - doch sie will beides nicht sein.

Am Anfang dieses Buches ist »Ksenia einsam und deprimiert«, sagt die Autorin - »und am Ende eigentlich auch«. Dennoch gibt es dazwischen eine Persönlichkeitsentwicklung, die aber äußerst unkonventionell skizziert wird. Vieles, was die promovierte Slawistin für ihr Buch zusammengetragen hat, kreist um das Thema Sprache. Da geht es um die feinen Nuancen, wenn die Erzählerin als Dolmetscherin zwischen einem Deutschen und einem Russen leichte Abweichungen in die Sätze einbaut. Da geht es um ihre Erinnerungen an die eigene Jugend, in der sie eine Außenseiterin war. Ob es daran lag, dass sie Wörter wie »Eichhörnchen« und »Fahrscheinknipser« nicht aussprechen konnte oder statt Tintenkiller »Tittenkiller« sagte? Sie weiß diese Frage selbst nicht zu beantworten. Russisch zu sein wollte diese Frau jedenfalls ebenso wenig wie Deutsch zu sein. Sie bewegt sich zwischen den Welten, so wie ihre Sprache nie den exakten Ton trifft - und damit zugleich das Fenster nach draußen in eine andere, eigene Welt öffnet.

Dabei bleibt diese Figur auch nach dem Vortrag durchaus fremd und rätselhaft. Das dürfte der Autorin aber nur recht sein: Entwicklungsromane und -filme, in denen ein Held ein Problem überwindet und schließlich zu sich selbst findet, sind nichts für Slata Roschal: »Ich lese das nicht«. Stattdessen mag sie Texte, »über die man nicht viel sagen kann. » Der nächste ist übrigens gerade in Arbeit und beschäftigt sich übrigens mit Dostojewski.

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