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Ein Fluss, der sich nicht bändigen lässt

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Von: Felix Müller

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Porträtierte mutige Frauen im Iran: die Fernsehjournalistin und Autorin Golineh Atai. Foto: dpa © dpa

Gießen. Während der iranischen Revolution »wurden Frauen aus dem System gedrängt. Für die neuen Machthaber war die Frau die Quelle der Unordnung, Ursprung des Bösen. Heute suchen die Kinder der Revolution nach den Ursachen jener Erschütterung, die viele Mütter als Erdbeben, Orkan oder Beginn einer Plage beschreiben.« Diese eindringlichen Zeilen trugen am Mittwochabend die beiden Schauspielerinnen Izabella Radic und Carolin Weber im Kleinen Haus des Stadttheaters vor.

Anlässlich des Internationalen Frauentags stellten die beiden Ensemblemitglieder Auszüge aus dem Buch »Iran - Die Freiheit ist weiblich« der deutsch-iranischen Journalistin Golineh Atai vor und berichteten vom alltäglichen Kampf iranischer Frauen gegen das Mullah-Regime. Begleitet wurde die Lesung vom Komponisten Amin Ebrahimi, der an Flügel und Klarinette für passende, melancholisch angehauchte Musikuntermalung sorgte.

Golineh Atai, die bekannte und vielfach ausgezeichnete TV-Journalistin, die für ihre Berichterstattung im arabischen Raum für den diesjährigen Grimme-Preis nominiert ist, porträtiert in ihrem 2021 erschienenen Iran-Buch neun unterschiedliche Frauen und geht auch auf ihre eigene Perspektive als Deutsch-Iranerin ein. Radic und Weber widmeten sich vor allem der Buch-Protagonistin Asam Dschangrawi. Die Angestellte stieg in der Revolutionsstraße in Teheran auf einen Verteilerkasten, um für 40 Minuten ihre Haare zu entblößen. Dafür wurde sie misshandelt, stundenlang verhört und verlor sogar das Sorgerecht für ihre Tochter. So wurde sie für viele Iranerinnen zum Vorbild und Symbol für den Kampf der Frauen für ihre Rechte. »Endlich waren die Augen der Welt auf die iranischen Frauen gerichtet, endlich wurden sie gesehen. Ich habe das getan, um mich der Zwangsverschleierung zu widersetzen. Lasst uns selbst entscheiden. Als Individuum habe ich das Recht auf Wahlfreiheit«, zitierte Carolin Weber aus dem Buch und lieferte zugleich den Grund für die Protestaktion der mutigen Frau.

Der symbolische Akt war Teil ihres jahrelangen Engagements für die Frauenrechte im Iran - ein Kampf gegen Windmühlen. »Es war entsetzlich. Ich konnte mich nicht abgrenzen von den hunderten Fällen, die über meinen Schreibtisch gingen.« Ihr trauriges Fazit nach fünf Jahren: »Es kann nichts passieren. Das islamische Recht und die Gesetzeslage sind frauenfeindlich. Diese Republik war eine Sackgasse für Frauen.«

Vor ausverkauftem Haus widmeten sich Carolin Weber und Izabella Radic nicht nur der Protagonistin aus dem Buch Atais, sondern auch der Autorin selbst und ihren Beweggründen für das Verfassen des Werkes.

Den Stein ins Rollen brachte ein iranischer Freund der 48-Jährigen. »Ihr dort drüben müsst mitfühlen, eure Komfortzone verlassen. Ihr müsst unseren Schmerz sehen und ertragen. Ihr könnt euch umdrehen und wegschauen, aber was auch passiert, niemand kann die Wahrheit über das, was mit uns geschieht, verleugnen«, zitiert sie den Freund.

»Also versuche ich den Stimmlosen eine Stimme zu verleihen. Jenen zuzuhören, die an den Rand gedrängt worden sind, zum Schweigen gebracht.« Seit über 40 Jahren, seit der islamischen Revolution 1979, kämpfen mutige Frauen für ihre Rechte im Land, doch auch im Jahr 2023 sieht die Realität leider oftmals anders aus. »Eine 19-Jährige verkleidet sich als Mann, um ihre Lieblingsfußballmannschaft im Stadion zu sehen. Als ihr dafür eine Haftstrafe angedroht wird, zündet sie sich an. »Die Schlagzeilen, die im Minutentakt erscheinen, machen mürbe wie das Hämmern eines Drucklufthammers, aber sie sind der Alltag für Iranerinnen und Iraner. Sie erleben Zyklen der Gewalt und des Leids, wieder und wieder«, heißt es in dem Text.

Doch Aufgeben kommt nicht infrage. Denn trotz der Hoffnungslosigkeit sind es die Frauen, die für eine Veränderung sorgen können. »Die Männer sind korrumpiert vom System. Die Frauen sind nicht vorbelastet, da sie außerhalb des Systems stehen. Somit sind sie unweigerlich Führende im Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit. Die Kraft und Bewegung der Frau wird niemand aufhalten. Deine Steine und Felsen fürchte ich nicht. Ich bin die Flut, du kannst meinen Fluss nicht bändigen.«

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