»Ein freies Bett genügt«
Ob Single, gleichgeschlechtliche Paare, Senior oder Familie: Jeder kann Gastfamilie für einen Austauschschüler werden. »Es sind tolle Erfahrungen für beide Seiten«, schwärmt Uta Neumann aus Linden.
Gießen. »Eine Zeit mit einem Gastkind aus einem anderen Land zu verbringen, ist eine sehr bereichernde Erfahrung. Wer sich als Gastfamilie zur Verfügung stellt, ermöglicht nicht nur einem Jugendlichen seinen Traum von einem Schüleraustausch in Deutschland. Durch das Zusammenleben bekommen beide Seiten auch die Möglichkeit, eine andere Kultur auf eine ganz persönliche und einzigartige Weise kennenzulernen«, spricht die heimische Regionalbeauftragte der Internationalen Austauschorganisation AFS, Uta Neumann, aus eigener, hundertfacher Erfahrung.
Doch Gastfamilien zu finden, ist schwierig geworden, wenn auch alle geradezu von ihren »Gastkindern« schwärmen und vielfach eine Freundschaft über Jahre und Jahrzehnte entsteht.
Familie Hiestermann aus Gießen ist ein gutes Beispiel dafür und »Wiederholungstäter«. Familienvater Lutz zeigt auf ein Foto an der Wand, das ihn mit einer älteren Frau, seiner Mutter, zeigt. Doch ist es nicht seine leibliche Mutter, sondern seine Gastmutter, die er als 15-Jähriger zunächst 1981 und nochmal 1982 im Rahmen eines Schüleraustauschs in Ohio für jeweils vier Wochen besuchte.
Bis heute haben sie Kontakt. Seine Erfahrungen damals sowie der Wunsch der Tochter, ein Auslandsjahr zu machen, waren ausschlaggebend dafür, auch einmal eine Gastschülerin aufzunehmen. »Ich hatte Glück mit einer guten Familie«, schwärmt Hiestermann von seiner Gastfamilie noch 40 Jahre später.
Von Zoe bekommt er aktuell und umgehend dieses Kompliment zurück. Zoe kommt aus Massachusetts/USA und lebt seit dem 28. August 2021 im Hause Hiestermann. Doch ihre Rückreise steht bevor, denn das Austauschjahr neigt sich dem Ende zu. Dann dauert es für Lutz und Bianca Hiestermann nicht mehr lange, und sie müssen sich von Tochter Helen verabschieden: Am 29. Juli bricht die 16-Jährige nach Chile auf. Als Zoe nach Gießen kam sprach sie kein Deutsch, erhielt Sprachunterricht wie alle Austauschschüler und besucht gemeinsam mit Helen die 10. Klasse an der Liebigschule. Viel schwerer jedoch als die deutsche Sprache, erwies sich für Zoe das Spielen in einem Fußballverein. Die Auflagen und Hürden, die die Welt-Fußballorganisation FIFA jungen Menschen hier abverlangt ist, um es salopp zu sagen, »nicht normal«: Da wurden Bestätigungen vom Trainer in den USA benötigt und jede Menge Unterschriften waren zu leisten, bis die Mittelfeldspielerin, die auch »stürmen« kann, endlich bei der zweiten Damenmannschaft des TSV Kleinlinden spielberechtigt war. Da war es wesentlich einfacher, gemeinsam zu musizieren, denn Zoe spielt Bratsche, Helen Klavier und als Duo treten beide auf. Groß war die Freude zu Beginn des Monats, als die junge Amerikanerin die Deutsch B2-Prüfung erfolgreich bestand. B2 prüft allgemeine Deutschkenntnisse auf fortgeschrittenem Niveau.
Am Tisch bei Gesprächen wird herzhaft gelacht und der ein oder andere Seitenhieb ausgeteilt. Und diese sind der beste Beweis dafür, dass sich hier ein tolles Verhältnis entwickelt hat. Und dabei hat die Organisation AFS einen großen Anteil, wie Bianca Hiestermann berichtet. Die Auswahl der Gasttochter war »vorzüglich« - und das bereits zum zweiten Mal. Zoe ist nämlich bereits die zweite Gasttochter. Die ältere Tochter der Familie, die aktuell ein freiwilliges soziales Jahr in Dänemark absolviert, hatte bereits 2018/19 über AFS das französischsprachige Kanada besucht. Im Gegenzug kam Anfang 2020 eine Gastschülerin aus der französischen Schweiz in die Familie. »Das hatte damals schon toll funktioniert, deshalb haben wir auch gerne wieder eine Gastschülerin aufgenommen«, erzählt Bianca Hiestermann. Ein Gastkind ermögliche viele neue Eindrücke und Erfahrungen - ob bei der gemeinsamen Freizeitgestaltung, im alltäglichen Zusammenleben oder in Gesprächen. Dass die junge Schweizerin aufgrund von Corona ihren Aufenthalt vorzeitig abbrechen musste, war »höhere Gewalt« und bedauerlich.
Die Internationale Organisation AFS kann in diesem Jahr auf 70 Jahre Austauschbegegnungen zurückblicken. AFS unterstützt Gastfamilien und es gibt wohl keine, die mehr Erfahrungen dabei hat als Uta Neumann. Auch die Lindenerin hat einst Gastkinder in ihrer Familie aufgenommen und auch ihr Sohn besuchte eine Gastfamilie. Beeits vor fast einem halben Jahrhundert ist sie selbst zur internationalen Schüleraustausch-Organisation »American Field Service« (AFS) gekommen und seitdem aktiv. In fast 40 Jahren als Vorsitzende des Gießener Komitées hat sie mehr als 35 Programmteilnehmer auf ihr Austauschjahr in einem fremden Land vorbereitet - und stets für Schüler aus dem Ausland in Gießen und Umland Gastfamilien gesucht und auch betreut.
Bundespräsident Horst Köhler hat Neumann 2008 für ihr herausragendes ehrenamtliches Engagement die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Doch Neumann geht es nicht um Orden, vielmehr ist AFS Interkulturelle Begegnungen, wie der Verein mittlerweile heißt, und der Schüleraustausch ihr eine Herzensangelegenheit.
Sie stellt klar: »Gastkinder erwarten kein Unterhaltungsprogramm, sie sind mit dem Schulalltag und ihrer knapp bemessenen Freizeit voll eingespannt«, so Neumann, die betont, einfach jeder kann AFS-Gastgeber werden. Familien, aber auch alleinerziehende Mütter und Väter, gleichgeschlechtliche Paare und auch Paare und Alleinstehende ohne Kinder sind herzlich aufgefordert, sich zu melden.
»Wer Gastfamilie werden möchte, braucht weder ein großes Haus noch ein hohes Einkommen. Wenn Sie ein großes Herz und ein freies Bett haben, dann sind Sie genau die richtige Familie. Wichtig ist ein aufrichtiges Interesse an einem jungen Menschen aus einer anderen Kultur«.
Wer Interesse hat, Gastfamilie zu werden, oder auch Schüler, die gerne für ein Jahr ins Ausland gehen möchten, können sich bei Uta Neumann unter 06403/7766858 näher informieren.
Im Internet: www.afs.de