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Ein Gebäude, drei Schicksale

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Von: Felix Müller

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Leipzig ist der Schauplatz des aktuellen Romans von Bettina Wilpert - in der Zeit des Nationalsozialismus, in der DDR und im Deutschland des Jahres 2015. Foto: dpa © dpa

Schriftstellerin Bettina Wilpert war mit ihrem neuen Roman zu Gast beim Literarischen Zentrum Gießen. Im Zentrum steht ein Leipziger Haus und seine bitteren Geschichten.

Gießen. Nach ihrem gefeierten Debütroman »Nichts, was uns passiert« stellte die Leipzigerin Bettina Wilpert bei einer vom Literarischen Zentrum Gießen (LZG) zusammen mit Zellkultur - Büro für angewandte Kultur und Bildung ausgerichteten Lesung jetzt ihr zweites Werk in den Räumlichkeiten des Prototyp vor. »Herumtreiberinnen« beinhaltet mehrere Zeitstränge und neben drei verschiedenen Hauptprotagonistinnen auch einen real existierenden Gebäudekomplex mit dunkler Vergangenheit.

»Mir geht es um das Gebäude und die Geschichte dahinter. Es wurde immer genutzt, um Menschen einzusperren, die nicht in das System passten. Deswegen spielt es in allen Zeitebenen eine besondere Rolle« erklärte die Autorin gegenüber LZG-Moderatorin Diana Hitzke. Die Rede ist von einer ehemaligen Städtischen Arbeitsanstalt in Leipzig mit 130-jähriger Geschichte. Geprägt war sie von Ausgrenzung und Disziplinierung gesellschaftlicher Außenseiter.

Fiktive Geschichte an realem Ort

Bettina Wilpert, die Kulturwissenschaft, Anglistik sowie Literarisches Schreiben studiert hat, konzentriert sich in »Herumtreiberinnen« auf die Zeit des Nationalsozialismus und der DDR, wirft aber ebenfalls einen Blick in die Gegenwart. Dabei verwebt sie geschickt reale Begebenheiten mit fiktionalen Inhalten. So lernen die Leser Protagonistin Manja kennen - eine 17-jähriges vorlautes, aneckendes Mädchen, die im DDR-Leipzig der 80er Jahre lebt und mit ihrer Freundin Maxi in einen Schrebergarten einbricht, um Fernsehen schauen zu können. »Viele Gärten gefielen mir nicht. Diese Akribie, die zeigte, dass man nichts falsch machte, jeden Tag zum Gießen vorbei kam - alles auf die Reihe kriegte. Eigentlich bestätigte sich für mich nur, dass die Leute kein Leben hatten, nur wenige Gärten lebten wirklich«, las Wilpert den Beginn des Romans.

Das ihre Wahl auf einen Schrebergarten fiel, passte für LZG-Moderatorin Diana Hitzke perfekt. »Ein idyllischer, klassischer Ort, der gleichzeitig durch Begrenzungen und Disziplinierung gekennzeichnet ist.« Die Schriftstellerin erschafft im Buch immer wieder eine Art Freiheits- und positives Lebensgefühl, konterkariert dieses aber mit den Grenzen von Institutionen und Systemen der jeweiligen Zeit - ein wirkungsvolles Stilmittel.

Im nächsten vorgetragenen Kapitel landet Manja im bereits erwähnten Gebäudekomplex. In der DDR befand sich dort eine Außenstelle der Psychiatrie und eine Venerologische Station (Station für geschlechtskranke Frauen). »Die Schwester näherte sich mir mit einer Schere. Instinktiv wollte ich zurückweichen, aber ich war schon an der Wand, der Raum war klein. Meine Locken sollten ab. Kurz sah ich die Zukunft, wie ich mir ins Haar fassen wollte, um meine Locken um den Zeigefinger zu wickeln - eine Beschäftigung, der ich meist im Unterricht nachging, wenn mir langweilig war - und ins Leere fassen würde. Wie da keine Haare waren, keine Locken. Wie fühlt sich nackte Kopfhaut an?«

Zur Zeit des Nationalsozialismus war das Gelände Haftort und Drehscheibe ziviler Zwangsarbeit. Womit die 33-jährige Autorin reale Geschichte aufgreift. Denn im Handlungsstrang, der die NS-Zeit beleuchtet, landet Lilo, die 1944 für den kommunistischen Widerstand arbeitet, ebenfalls in der Haftanstalt. Dieser historische Bezugspunkt in der Riebeckstraße (im Roman: Lerchenstraße) soll als Erinnerungsort erhalten bleiben. Deswegen organisiert Bettina Wilpert in Kooperation mit dem »Initiativkreis Riebeckstraße« Rundgänge über das Gelände und bringt Besuchern dabei die geschichtlichen Brüche und Kontinuitäten des Gebäudekomplexes näher. Als politisch engagierte Autorin zählen Sexualisierung oder Feminismus zu ihren Themen.

Für die Leipzigerin allerdings zwei Paar Schuhe. »Für mich ist das Privatsache, wo ich mich engagiere und aktiv bin. Das hänge ich gar nicht an die große Glocke.« Natürlich sei es erfreulich, dass ihre Texte auch politisch gelesen würden, allerdings sei Aufklärung nie die Intention. »Ich möchte einfach literarisch schreiben, mich ausprobieren, experimentieren und daran wachsen. Also warum nicht einfach mal drei Zeitebenen?«, lächelte Wilpert.

Was Lilo und Manja in der Lerchenstraße passiert ist, wird im dritten Handlungsstrang erzählt, die im Jahr 2015 angesiedelt ist. Es geht um Robin, die als Sozialarbeiterin in dem mittlerweile als Unterkunft für Flüchtlinge fungierenden Gebäude arbeitet und gegen die Bürokratie ankämpft. »Herumtreiberinnen« erzählt so die Geschichte dreier starker Frauen, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben, jedoch durch ihre Erfahrungen in diesem Haus tief verbunden sind. Dabei stellt der Roman zugleich die Frage, welchen Einfluss die unterschiedlichen Zeiten und Staatsformen auf ihre Leben hatten.

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Schriftstellerin Bettina Wilpert (rechts) im Gespräch mit LZG-Moderatorin Diana Hitzke. Foto: Müller © Müller

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