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(K)ein Leben in Freiheit

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Nach der Dokumentation »Auf Anfang« berichten Bewährungshelfer aus ihrem Berufsleben in Gießen. © Mosel

Beim Filmgespräch zur Dokumentation »Auf Anfang« im Kinocenter geben Gießener Bewährungshelfer Einblicke in die Resozialisierung von Straftätern.

Gießen. Mit den Jahreszeiten zieht auch das Leben draußen vorbei. Michael Scholly sitzt drinnen, in seiner Acht-Quadratmeter-Zelle der Justizvollzugsanstalt Schwerte. Die Fenster sind hier gleich doppelt vergittert, ein grauer Flachbau, Neonröhren, Tristesse, Eintönigkeit. Seit 28 Jahren spielt sich Schollys Leben hinter diesen gut verschlossenen Türen ab. Wegen Mordes hat er lebenslänglich bekommen. Doch nach fast drei Jahrzehnten im Gefängnis soll der 49-Jährige auf Bewährung entlassen werden. Die Filmemacher Georg Nonnenmacher und Mike Schlömer wollten den (Ex-)Häftling drei Jahre lang mit der Kamera durch den Resozialisierungsprozess begleiten. Doch das Projekt endete dreieinhalb Monate nach Schollys Entlassung abrupt. Herausgekommen ist dennoch die kürzlich mit dem NRW-Filmpreis ausgezeichnete Dokumentation »Auf Anfang«. Nicht zuletzt durch das plötzliche Ende ist es ein unbequemer Film geworden, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Einen Einblick in die gesellschaftliche Wiedereingliederung von Straftätern gaben nach der Vorführung im Kinocenter zwei Bewährungshelfer des Landgerichts Gießen. In der Diskussion kristallisierte sich schnell heraus: Im Fall Michael Scholly hätte wahrscheinlich manches besser laufen können. Dabei verzichtet die Dokumentation auf jegliche Form der Schuldzuweisung. Der Zuschauer bleibt stets neutraler Beobachter.

Insgesamt saß der Endvierziger bei Beginn der Dreharbeiten 33 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Schon als Kind wurde Scholly von seinen Eltern zu Diebstählen angestiftet, missbraucht und zur Prostitution gezwungen. Einen geregelten Tagesablauf, eine Struktur im Alltag - all das kennt er außerhalb von Gefängnismauern kaum. Dabei ist der Mörder ein reflektierter Mann, voller Hingabe malt er in der Kunsttherapie abstrakte Bilder oder steht als talentierter Schauspieler auf der Bühne der JVA-Theatergruppe. Seinen Hafturlaub verbringt er in Haus und Garten seiner ehrenamtlichen Betreuer, einem älteren Ehepaar. Dazu hat er noch seinen engen Freund Peter, mit dem er sich leidenschaftlich über das Leben »draußen« austauscht, der ihm zeigt, wie ein Smartphone funktioniert.

Die Vorzeichen stehen gut: Michael Scholly hat bereits eine eigene Wohnung gefunden sowie eine Festanstellung als Landschaftsgärtner. Nach 28 Jahren in der Zelle eine Art Jackpot. »Das ist schon erstaunlich«, findet Bewährungshelferin Sandra Gilbert. Nach zehn Jahren im Beruf habe sie das tatsächlich noch nie erlebt. Dabei kennt sie »total viele positive Fälle« um Menschen, die nach der Haft straffrei bleiben und »draußen« zurechtkommen. Scholly schafft das nicht.

Überraschend schnell wechselt Euphorie zu fast pubertärem Verhalten. Frauen und durchgemachte Nächte sind schon bald wichtiger als die anstrengende Arbeit, der helle Laminatboden ist nicht mehr ganz so sauber und auf dem weißen Couchtisch steht Rotwein neben Jack Daniels. Dem Chef gefällt die Arbeitseinstellung seines neuen Mitarbeiters nicht. Auf vier unentschuldigte Fehltage bereits im ersten Monat folgt die Abmahnung. »Ein Paradebeispiel«, findet Bewährungshelfer Oliver Wern. »Wie im Film gesehen, kann es bei Arbeitgebern schnell Theater geben. Es ist vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, dass viele der Resozialisierung kritisch gegenüberstehen.« Essenziell sei daher eine gute Vorbereitung auf das künftige Arbeitsleben. Dass Scholly vor seiner Entlassung nicht erst einmal in den offenen Vollzug gewechselt ist, also über einen gewissen Zeitraum langsam an ein Leben in Freiheit und seine Herausforderungen gewöhnt worden ist, bleibt für die Gießener Bewährungshelfer unverständlich. »Ressourcen, Stärken und Schwächen können so erkannt werden«, sagt Wern. »Von Null auf Hundert, das schaffen die Wenigsten.«

Ein »schon fast fahrlässiger« Fall

Die JVA Gießen arbeitet etwa mit Kooperationspartnern, bei denen sich die Häftlinge beruflich ausprobieren können. In seinen elf Jahren im Beruf, acht davon im Bereich Haftentlassungen, hat Oliver Wern rund 20 verurteilte Mörder in die Freiheit gehen sehen, »aber keinen einzigen ohne offenen Vollzug.« Seine Kollegin findet die Entscheidung im Fall Scholly »schon fast fahrlässig«.

Michael Schollys Resozialisierung scheitert mit einem lauten Knall. Nur dreieinhalb Monate nach seiner Entlassung stürmt ein SEK-Kommando die Wohnung. Kurz zuvor hat der Protagonist einen Internet-Livestream gestartet. Die so aufgezeichneten Bilder seiner Festnahme stehen am Anfang des Dokumentarfilms - und lassen das zuvor abgedrehte Material in anderem Licht erscheinen. »Dass Menschen erneut straffällig werden, ist keine Seltenheit«, verdeutlicht Oliver Wern. »Aber die Schwere der Tat: das ist der Super-GAU.« Denn Michael Scholly hat erneut ein Leben ausgelöscht. Wegen Totschlags wird er später zu 14 Jahren Haft verurteilt - diesmal mit anschließender Sicherungsverwahrung.

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