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Ein Leben wie mit weichen Uhren

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Es ist zum Schreien: Corona ist noch nicht vorbei - und schon müssen die Schülerinnen und Schüler mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die nächste Zumutung ertragen. Symbolfoto: Ostschul-Media-House © Red

Bitte aufatmen: Von den Zumutungen für Gießener Schüler zwischen Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine. Es ist einfach zum Schreien.

Gießen . Wenn die Kinder und Jugendlichen irgendwann in ferner Zukunft im Erwachsenenalter auf diese Jahre zurückblicken, werden sie sich erinnern an eine Zeit, die ihnen vorkommen mag, als seien sie in einem Gemälde von Salvador Dali gelandet. Jenes Bild mit dem Titel »Weiche Uhren«, die als Inkarnation der Zeit zäh zerfließen. Und nebenbei mag es ihnen, um den Ausritt in die Kunstepochen weiterzutreiben, vorkommen, als seien sie Edvard Munchs Protagonist in »Der Schrei«, aktualisiert dadurch, dass der weit geöffnete Mund von einer Maske bedeckt ist.

Vor ungefähr zwei Jahren kam uns der Gedanke, in loser Folge die Serie »Corona Kidz« zu starten, die in Lockdown- und Homeschooling-Tagen ein wenig zu beleuchten versucht, wie es denn den Kindern und Jugendlichen mit einem Leben geht, das auch für sie zur »anderen Normalität« wurde. Vor zwei Jahren hatten wir angenommen, dass es eine Serie mit vermutlich geringer Halbwertzeit sein würde. Aber jetzt gibt es immer noch Grund, die, wie der Titel verrät, augenzwinkernd gemeinte Kolumne mit dem ernsten Hintergrund am Leben zu erhalten, so wie das Virus mutiert, so mutieren die Maßnahmen. Auch in der Schule, noch.

Der gerne genutzte Spruch »der Mensch ist ein Gewohnheitstier« passt wie die Faust aufs Auge oder die Mund-Nase-Bedeckung auf die untere Gesichtshälfte, wenn es darum geht, sich mit neuen Situationen zu arrangieren. Wie rasch Kinder und Jugendliche eine Situation annehmen, die noch ein paar Monate zuvor als undenkbar und absurd gegolten hätte, konnten wir Eltern oder auch die Lehrer, Erzieher, Jugendtrainer rasch sehen. Aber trotzdem bleiben da viele Wunden, die durch solch seltsame Verbote, sich nicht mit mehr als einem Freund zu treffen, geschlagen wurden. Über zuhause kasernierte Kinder, Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs, die Rückständigkeit deutscher Digitalisierung, bei offenen Fenstern mit klammen Fingern Diktate schreibende und in Decken gehüllte Zehnjährige wurde geschrieben, auch darüber, was das alles mit uns macht. Und vor allem: mit den Jüngsten. Oder den Jugendlichen, die doch eigentlich mit 16 Jahren gemeinsam auf einer Decke im Park liegen sollten, ohne Berührungsängste, vielleicht mal an der gleichen Flasche Bier nippen mögen, aber so, allüberall: Ansteckungsgefahr. Wir haben auch gesehen, wie unter einem Brennglas das, was wir sonst unter »die Schere geht immer weiter auseinander« verbuchen, in einer Krise sich zuspitzt. Die Familie im Plattenbau ohne Balkon, ohne Garten, ohne Tablet, die nicht zur seelisch-moralischen Aufbauarbeit ein Essen bestellen kann, oder einen Urlaub buchen, wenn der ganze »Sch… vorbei ist«, diese Familie gibt es in unserem reichen Land doch viel zu oft.

Nächste Woche steht an der Gesamtschule Gießen-Ost eine »Aufatmenwoche« an. Eine großartige Idee. Die Schulgemeinde biegt ein auf die Zielgerade gen Osterferien und die Kinder, Jugendlichen, aber auch das Kollegium dürfen aufatmen. Nach zwei Jahren unseliger Pandemie. Mal nicht den Lernstoff als Maßstab nehmen, sondern diesen und jenen Ausflug planen, rausgehen, sich (neu) und wieder kennenlernen in einer lockeren Runde, »ach so, Du bist’s, so siehst Du ohne Maske aus«. Gut, das mag jetzt übertrieben sein, spätestens seit geimpft und geboostert wurde, können wir von einer Normalisierung sprechen. Und wundern uns, wie jene im Auto mitfahrenden 16-Jährigen (mit Maske) auf dem Weg zum Fußballspiel, über eine Demo, die den Weg blockiert. »Für unsere Kinder« steht auf den Plakaten. »Was wollen die?«, fragt einer der Jungs. »Gegen was demonstrieren die?« Fragt der andere - und ergänzt: »Gegen das Virus!« Er lacht. »Dagegen bin ich auch.«

Seltsame Zeiten

Aber die Anmaßung der Marschierer, die sich Spaziergänger nennen, sie würden ihre Kinder besser verstehen oder schützen, wenn sie die Abschaffung der Maßnahmen fordern, erschließt sich nicht. Es ist die schiere Arroganz, gepaart mit einem Gutmenschentum, das sich moralisch (und moralisierend) überlegen wähnt. Wir fahren weiter. Wir spielen wieder Fußball. Auch das war letztes Jahr um diese Zeit verboten. Man muss und musste nicht alles verstehen. Die »Aufatmenwoche« kommt einerseits wie gerufen. Und fühlt sich für die Schülerinnen und Schüler sicher andererseits auch seltsam an. Denn jetzt stehen die Kinder auf den Schulhöfen und stellen sich in Form eines Peace-Zeichens auf. Müssen die nächste Zumutung ertragen. Der Überfall des Virus auf die Gesellschaft, der Überfall Russlands auf die Ukraine, es geht in diesen seltsamen Zeiten nahtlos ineinander über. Und dahinter tobt ja noch die Klimakrise. Hätten wir fast vergessen. Das Bild von Dali heißt im Originaltitel: »Die Beständigkeit der Erinnerung«. Es wurde gemalt im Zeitalter des Surrealismus. Wir sind mittendrin. Schreit, wenn’s euch zu blöd wird, Kinder. Schreit - wie in Munchs Gemälde. Ihr habt jedes Recht dazu.

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