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Ein letztes Geläut vom Turm

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Kerzen wurden angezündet, dann wurde es still, als die Glocken der Wichernkirche ein letztes Mal läuteten. © Jung

Die Gläubigen der Wicherngemeinde im Osten Gießens haben sich von ihrem Gemeindehaus verabschiedet. Schon länger konnte der marode Kirchenbau nicht mehr für Gottesdienste genutzt werden.

Gießen. Die Glocken läuteten am Ostermontag zum letzten Mal vom Turm der Wichernkirche und ihr Klang rief bei den gut zwei Dutzend Gläubigen, die sich am Gemeindehaus neben der Kirche versammelt hatten, Erinnerungen zurück.

Am 29. November 1969, dem 1. Advent, war das Gotteshaus eingeweiht worden. Seit vergangenem Sommer steht es allerdings leer. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat die Schließung wegen Baumängeln angeordnet. Deshalb bleibt das Gebäude bis auf Weiteres gesperrt, die Gemeinde darf keine Gottesdienste mehr darin feiern. Es ist zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass in der Stadt Gießen eine evangelische Kirche wegen Einsturzgefahr aufgrund von Baumängeln geschlossen werden musste.

Im Zuge dieser besonderen Lage gab die Kirchengemeinde auch das Gemeindehaus auf. Am Ostermontag wurde es mit einer Andacht entwidmet. »Es ist ein harter Einschnitt für uns alle«, macht Pfarrer Johannes Lohscheidt gegenüber dem Anzeiger deutlich. Viele der Anwesenden erinnerten sich noch, als »die Leute in Scharen kamen und ihren Glauben miteinander teilten.« Lohscheidt unterstrich: «Doch wir leben in anderen Zeiten. Anders als zur Zeit vom Bau dieses Hauses konzentrieren wir unsere Orte für kirchengemeindliches Leben. Dieses Gemeindehaus hat seinen Zweck erfüllt.« Es sei ein Ort der Freude und des Trostes gewesen. Ein Ort, an dem Konfirmand:innen auf ein Leben in der Gemeinde vorbereitet wurden, ein Ort der Kirchenmusik und verschiedener Kreise. Der Seelsorger verwies in seiner Predigt auch darauf, die Gemeinde sei viel kleiner geworden, damit auch die finanziellen Möglichkeiten. Damit die Kirche in Zukunft weiter Menschen von der Geschichte Gottes erzählen könne, müsse sie sich von Dingen trennen, die nicht mehr wirtschaftlich sind. Der Pfarrer bekannte: »Das tut weh, aber noch mehr schmerzt es, die Menschen zu verlieren, für die wir als Kirche keine Zeit aufbringen können, wenn wir dabei sind, Gebäude zu erhalten.« In einer sich wandelnden Welt müsse die Kirche sich mit verwandeln.

Froh sind die Verantwortlichen, dass die Nachbarkirchen in der Luther- und Andreasgemeinde ihre Tore schon geöffnet haben. Dort gibt es freie Räume. Und die katholische St. Thomas Morus-Gemeinde stellt ihr Gotteshaus zur Verfügung und feiert gemeinsam mit den Wichern Gläubigen Gottesdienste, wie zuletzt an Ostern. Hinter der Entscheidung, das Gemeindehaus aufzugeben, steht der Gedanke, im Osten der Stadt ein gemeinsames Gebäudekonzept zu entwickeln, erläuterte Johannes Lohscheidt. »Es bleibt spannend«, blickt er auf die Entscheidung der Kirchenleitung, die Konzepte vorstellen will. Jetzt sah man traurige Augen und manche Träne ist geflossen, als der Pfarrer zum letzten Mal den Schalter des Geläutes betätigte und eine Weile der Klang der Glocken über die Evangelische Siedlung zog. Kerzen wurden angezündet und sich von einem Ort verabschiedet, der Geschichte geschrieben hat. Anwesend war auch Kai Bülow, Geschäftsführer der Firma Depant, die das Gemeindehaus gekauft hat. Auf die Frage, was damit geschehe, sagte er, es sei ein Ort der Begegnung geplant, ohne konkret zu werden. Mitreden bei der Nutzung müsse auf jeden Fall planungsrechtlich die Stadt.

Zu Beginn des Treffens hatte Pfarrer i.R. Detlef Pabst, der von 1991 bis 2009 Gemeindepfarrer bei Wichern war, an alle Kolleginnen und Kollegen erinnert, die dort eingesetzt waren. Stellvertretender Dekan Andreas Specht sprach ein Grußwort. Die Andacht begleitete musikaisch Dorothea Rumpf an der Orgel.

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