1. Startseite
  2. Stadt Gießen

Ein Riss zieht sich durchs Abendland

Erstellt:

dpa_5FA98E00FDBB4DBE_4c_1
Ein Teilnehmer präsentiert eine Deutschland-Fahne mit dem Schriftzug «Terror Stop! Regime« bei einer Demonstration gegen die Corona-Politik der Bundesregierung. Symbolfoto: Fabian Sommer/dpa © Red

Der Journalist Volker Siefert referiert in Gießen über die mit gängigen Erklärmustern kaum zu fassende Querdenker-Szene. Er widmet sich »Staatsverächtern« und »Putin-Fans«.

Gießen. »Ich würde Sie ja gerne mit etwas Positivem nach Hause entlassen«, sagte der Journalist Volker Siefert öfter in der Diskussion, die sich seinem Vortrag »Staatsverächter und Putin-Fans - Der russische Angriffskrieg und das politische Klima in der Querdenkerszene« anschloss. Zu der hatte das Jugendbildungswerk Gießen ins Jokus eingeladen. Zwar waren nur wenige Zuhörer zu der Veranstaltung gekommen, die aber waren alle »vom Fach«, also von der Polizei, dem Ordnungsamt oder in der Jugendbildung tätig.

Siefert, freier Redakteur beim Hessischen Rundfunk, ist ein Spezialist für die Gruppen, die vielleicht weniger von einem anderen Staat träumen, dafür aber umso mehr mit der Zerstörung des existierenden liebäugeln, wenn nicht sogar darauf hinarbeiten. Als da wären Rechtsextremisten, Islamisten oder eben die sehr heterogene Gruppe, für die der Verfassungsschutz den neuen Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« eingeführt hat. Ein Wortungetüm, das ein wenig die Hilflosigkeit spüren lässt, die sich auch in einigen Beiträgen der Zuhörer zeigte, die zum Teil darüber irritiert waren, dass bei Querdenker-Demos auch Leute mitliefen, »die doch eigentlich immer auf unserer Seite waren«.

Anfang im Ländle

Siefert begann seinen Vortrag mit einem kurzen Abriss der Querdenker-Bewegung, die ab Mai 2020 vor allem im Südwesten Deutschlands entstanden ist und nicht in Sachsen, wie mancher glauben mag. Einen ersten Höhepunkt habe sie mit einer Demo in Berlin im August 2020 erlebt, als einige Demonstranten ein Treppenportal des Reichstages besetzten. Um die Jahreswende 2021/22 hatte die Bewegung ihren Höhepunkt, als mehrere 10 000 Menschen bei Spaziergängen in ganz Deutschland mobilisiert wurden, mit dem erklärten Ziel, so Siefert, die Polizei mürbe zu machen. Der Zuspruch ebbte allerdings im Frühjahr mit dem Rückgang der Pandemie, dem Scheitern der Impfpflicht und Russlands Überfall auf die Ukraine ab. Ein Fakt, den einige Protagonisten der Bewegung als persönliche Beleidigung auffassten: »Die Zahl der Abonnenten hier im Kanal sinkt kontinuierlich. Zuspruchs erfreuen sich die Kanäle, die sich mit der Ukraine beschäftigen. Vielleicht ist es mal an der Zeit zu fragen, ob ich hier weiter machen soll«, lamentierte etwa der Rechtsanwalt Holger Fischer, eine der Größen der Szene auf Telegram. Seit im Zuge der Corona-Pandemie Twitter und Facebook immer rigider gegen Querdenker-Kommentare vorgingen, habe sich die Szene immer mehr auf diesen Chat-Anbieter verlagert, sagte Siefert, der selbst in die Abgründe dieses Kanals abgetaucht war, und dabei allerlei Unappetitliches und Erschreckendes ans Licht beförderte, wie etwas folgenden Netzfund: »Putin wird seine Ziele erreichen, aber um die ganze Welt von Satanisten, Zionisten und Nazis zu befreien, braucht er unsere Hilfe. Ungehorsam sein und alles, was die Zionisten verlangen, sabotieren.«

Es war dabei erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit sich manche Zeitgenossen im Schutze der vermeintlichen Anonymität ihrer Telegram-Gruppe hemmungslosen Umsturzfantasien hingeben, wobei es naturgemäß schwierig zu unterscheiden ist, was da bloße Kraftmeierei und was gefährliche Selbstradikalisierung ist.

Der Ukraine-Krieg habe aber auch zu tiefen Brüchen geführt in der zwei Jahre lang durch den Kampf gegen die Corona-Maßnahmen geeinten Bewegung. Während die einen nach wie vor Putin als Befreier von westlicher Dekadenz feierten (wie früher Trump), werde von anderen in der Szene der Angriff verurteilt.

Telegram-Gruppen ausgewertet

Seine Auswertung der Telegram-Gruppen habe ergeben, dass vor allem Russlanddeutsche und Spätaussiedler den Kreml-Herrscher unterstützten. Allerdings gebe es auch hier Brüche. Während der Rückhalt für Putin bei älteren Menschen, die vorzugsweise russisches Fernsehen konsumieren, stark sei, sehe die zweite und dritte Generation, die auch deutsche Medien nutzten, das oft viel kritischer.

Siefert betonte auch, dass reaktionär-antirationale Weltbilder in Russland verbreiteter und akzeptierter seien, als viele glauben. Der hier nahezu unbekannte, in Russland aber einflussreiche Ivan Iljin habe gelehrt, dass die Welt korrupt sei und die Menschheit von einer heiligen Nation gerettet werden müsse. Demokratie sei für Iljin unnötiges Ritual, die Beziehung zwischen Herrscher und Volk dagegen mystisch - Gedankengänge, wie man sie ähnlich bei Vordenkern der neuen Rechten wie Götz Kubitschek findet.

Die Ratlosigkeit, die nach Sieferts Vortrag in vielen Gesichtern zu lesen war, teilte der Referent. Diese neue Spaltung habe schließlich die ganze westliche Welt erfasst, und sei mit dem klassischen Links-Rechts-Schema nicht mehr zu erklären.

Auch interessant