Eindringen in den Zwischenraum

Gießen. Ausstellung ausgefallen, Termin verlegt? Damit wollte sich der Neue Gießener Kunstverein diesmal nicht zufriedengeben. Eine geplante Schau mit Werken der ukrainischen Künstlerin Marta Vovk musste angesichts des russischen Angriffskriegs in ihrem Heimatland ins kommende Jahr verschoben werden. Dafür gab es nun eine tänzerische Performance im Alten Kiosk:
Die Australierin Miranda Glikson tanzte in der Installation und versetzte die Besucher in erhebliches Staunen.
Eine gewisse Nachdenklichkeit war zu konstatieren, als Dirk Zschocke, der Vorsitzende des Kunstvereins, die Umstände erläuterte. »Ich wollte nicht einfach unter den Tisch fallen lassen, was in der Politik geschehen ist.« Der Krieg in der Ukraine habe sich auch konkret auf den Kunstverein ausgewirkt. So habe man entschieden, im ursprünglich geplanten Zeitraum der Ausstellung drei Performances unter dem Titel »Leerstelle« zu veranstalten. »Ich finde es wichtig, gerade in diesen Zeiten Kunst und Kultur sichtbar zu machen, weil es das ist, was uns menschlich macht und weiterbringen kann. Wenn ich Autor wäre, hätte ich einen Kommentar verfasst«, sagt Zschocke. Als bildender Künstler hab er eine andere Form gewählt und in der Kiosk-Galerie eine Bühne für die Künstler geschaffen.
Nun gab es also den Auftakt mit Miranda Glikson; sie ist Tänzerin, Choreografin und Pädagogin, war lange Zeit Mitglied der Tanzkompanie Gießen sowie diverser anderer Ensembles in Australien, Asien und Deutschland. Sie studierte Tanz in Brisbane und Tanzpädagogik in Frankfurt. Für Forschungsprojekte im Rahmen ihrer Promotion an der Queensland University in Aus-tralien untersuchte sie Tanz als Wahrnehmungsinstrument in unkonventionellen Performance-Räumen. Ihr Interesse liegt im Potenzial von Bewegung und Sinneswahrnehmung. Derzeit ist sie Feldenkrais-Lehrerin in Ausbildung.
In ihren jüngsten Performance-Projekten hat sich Glikson auf Live-Komposition in Tanz und Musik konzentriert, Sie verwendete Improvisation in Bewegung und Musik, um ein Tanzstück für ein junges Publikum zu schaffen.
Ein paar Besucher drängten sich in den kleinen Innenraum, andere verfolgten das Geschehen von draußen. Glikson, offenkundig gut gelaunt, erkundete zunächst langsam den bespielbaren Raum, arbeitete sich mit tintenfischartigen Bewegungen in ein kleines Fach unter dem Fenster hinein und bewegte sich tastend und Besitz greifend über die große Wand des Ausstellungsraums. Die war mit gelben aufgemalten Fenstern, Öffnungen sowie Nägeln von Jennifer Eckerts letzter Installation versehen und erinnerte mit den roten Spritzern an eine Situation im Häuserkampf.
Miranda Glikson blieb immer irgendwie erdbezogen, auch wenn sie einige Mal Sprungfiguren zeigte oder auf dem Fensterbrett performte. In der Mitte lagen ein paar Säcke Blumenerde und ein Kletterseil, der Boden war mit Folie abgeklebt. Glikson nahm dann den kleinen Stapel Blumenerde als Zentrum, schuf ein paar Aktionen mit dem Seil, in das sie sich fast einhüllte. Mit dem Gesicht nach unten riss sie schließlich ein immer größeres Loch in die Folie und begann, in den Zwischenraum einzudringen - jedenfalls teilweise. Es war der Abschluss dieses ungewöhnlichen Auftritts.
Das dreiteilige Programm unter dem Titel »Leerstelle« wird am Samstag, 3. Dezember, um 17 Uhr mit »Willow Trees Exist« fortgesetzt, einer Performance von Maria Tsitroudi mit musikalischer Begleitung von Jonas Demuth.
Maria Tsitroudi ist Choreografin und Tänzerin und verbindet in ihrer Arbeit Malerei, Poesie und Tanz zu einem performativen Erlebnis, das sich mit materiellen Lebensbedingungen sowie Landschaft, Identität und Geschichte beschäftigt. Jonas Demuth verfolgt als Musiker, Tänzer, Theaterwissenschaftler und Bio-Landwirt einen Zugang des behutsamen Zu- und Hinhörens und ergänzt die Performance musikalisch.
Die Reihe endet am Samstag, 10. Dezember, um 17 Uhr mit einer Lesung von Hess Paul und ukrainischen Musikvideos von DJ Wölfe auf Eis. Hess Paul widmet sich den Wechselwirkungen von Text und Fotografie im Hinblick auf Gesellschaft und Umwelt. DJ Wölfe auf Eis ist das DJ-Projekt von Wolf D. Schreiber, der im Bereich Musik und Literatur tätig ist. Zum Intermezzo zeigt er ukrainische Musikvideos zwischen Punk, Ska, Avantgarde und Neofolk der 1990er bis heute. (red)