Eine Annäherung an die Ukraine

Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen stellte ihr Buch »Hundepark« um die ukrainische Fruchtbarkeitsindustrie im Stadttheater vor.
Gießen. Eigentlich hätte diese bemerkenswerte Lesung, veranstaltet vom Literarischen Zentrum Gießen (LZG) in Kooperation mit dem Stadttheater, schon im Herbst stattfinden sollen, musste aber krankheitsbedingt verlegt werden. Und der Wiederholungstermin hätte nicht passender ausfallen können: der 24. Februar. An diesem Jahrestag des Überfalls Russlands auf die Ukraine kam nun die estnisch-finnische Autorin Sofi Oksanen nach Gießen, um ihren Roman »Hundepark« vorzustellen. Das Buch erzählt davon, warum zwei junge Ukrainerinnen ihren Körper und ihre Eizellen an reiche Familien im Ausland verkaufen. Außerdem vom Leben in der Ukraine, von Gewohnheiten und Familientraditionen, und es erzählt, zumindest indirekt, auch vom Einmarsch Russlands in den Donbass im Jahr 2014.
2019 veröffentlicht
Seitens des Stadttheaters begrüßte Dramaturgin Lena Meyerhoff die Gäste im Kleinen Haus. Sie wies darauf hin, dass die Autorin bereits 2019 beim Erscheinen ihres Romans ausdrücklich festgestellt habe: »Die Sache der Ukraine ist die Sache der ganzen Welt«: Auf Deutsch erschien der Roman »Hundepark« 2022, und wurde wenig später von Dramaturgin Meyerhoff in Zusammenarbeit mit Gießens Intendantin Simone Sterr fürs Theater bearbeitet.
Über das Zustandekommen dieses gemeinsamen Termins freute sich Dr. Anika Binsch, Geschäftsführerin des LZG. Dessen Ziel sei es, sich mit anderen Akteuren der Region zu vernetzen und so ein neues Veranstaltungsformat zu schaffen. Ihre Kollegin Sandra Binnert übernahm das auf Englisch geführte Interview mit der Autorin. Deutsche Textauszüge stellten die Schauspieler Ben Janssen und Zelal Kapcik vor.
Zeitliche Sprünge charakterisieren sowohl den Roman als auch das Theaterstück. Das erste Kapitel spielt 2016 in Helsinki, der Schauspieler Janssen las die erste Passage: Die aus der Ukraine geflohene Protagonistin Olenka sitzt auf einer Bank neben dem Hundepark und beobachtet eine Familie mit kleinem Hund beim Spaziergang, zwei Kinder gehören auch dazu. Eine Frau setzt sich neben sie, Olenka will erst nicht wahrhaben, dass es Daria ist, »ihr bestes Mädchen«. Einst waren sie beste Freundinnen, nun hat Olenka Angst, dass Daria sie bei ihren Verfolgern verraten könnte ...
Korruption, illegale Machenschaften, das Geschäft mit der Kinderwunschindustrie: Sofi Oksanen sucht mit ihrem Roman nach einem Weg »das Land zu verstehen«. Mit leichter Ironie verweist sie auf das Titelbild des Buches, das eine große Mohnblume ziert. Blumen, ein schönes Symbol der Frauen, gerade in der Ukraine. Doch weit gefehlt, kleine »poppyfields« - Mohnfelder sind in vielen Gärten vor allem der östlichen Ukraine zu entdecken, damit sich die Eigentümer mit der Produktion von Opium einen kleinen Nebenverdienst leisten.
Sprung zurück, 2006, Großstadt Dnipropetrowsk. Olenka wird von einer Frau der Kinderwunschindustrie angeworben, Schauspielerin Zelal Kapcik trägt die Zeilen einfühlsam vor: Die Familien der Bewerberin wird bis zurück in die dritte Generation nach physischen und psychischen Defekten untersucht. Die Kundschaft will gesunde Kinder haben, keine Mutter aus Tschernobyl oder aus dem Donbass, wo die vergiftete Luft dunkle Schatten auf den Lungen hinterlässt. Um ihre Bewerberin zu überzeugen, lobt die Chefin ihre Organisation. »Mit dem Zusammenbruch des Imperiums waren die Arbeitsplätze der Experten verloren gegangen. Dank ihrer Organisation war nicht die gesamte Ärzteschaft Richtung Westen verschwunden. Wusstest du, dass in Charkow das erste Reagenzglaskind der GUS-Staaten entstand? Unser Pflegepersonal und unsere Forscher gehören zur Weltspitze«.
Am Ende dieses Einstellungsgesprächs denkt sich Olenka: »Ich war zu allem bereit gewesen, aber jetzt freute ich mich darüber, dass ich Leber und Nieren behalten durfte und nicht an die Türen eines Eheanbahnungsinstituts anklopfen brauchte. Verglichen damit war das Spenden einiger Eizellen geradezu lächerlich mühelos.«
Moderatorin Binnert erkundigte sich nach den Schauplätzen der Story in Finnland, Estland und der Ukraine. In diesen drei Ländern spielt die Handlung des Buches. Protagonistin Olenka wird in Talinn geboren, der Heimatstadt ihrer Mutter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zieht die Familie zu den Angehörigen des Vaters in den Donbass. Nach dessen Ermordung zieht die Familie erneut um, Jahre später bewirbt sich Olenka bei der Fruchtbarkeitsindustrie im Donbass und flüchtet schließlich nach Helsinki.
Drei Länder mit Grenzen zu Russland. Diese Gemeinsamkeiten veranlassen Sofi Oksanen, hier ihren Roman anzusiedeln. Oder, wie sie es anders formuliert: Die Geographie als Schicksal. Und Oksanen weiß genau, wovon sie schreibt. Sie wurde 1977 als Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters geboren, wuchs in Helsinki auf und studierte dort Dramaturgie. Ihr dritter Roman »Fegefeuer« erschien in über 40 Ländern und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Mafiöse Strukturen
In ihrem aktuellen Roman »Hundepark« geht die Autorin mit der Fruchtbarkeitsindustrie ins Gericht, die in der Ukraine besonders ausgeprägt ist. »Es ist das einzige Land, in dem das Geschlecht des Kindes ausgesucht werden kann und in dem der Name der Leihmutter nicht in die Geburtsurkunde aufgenommen werden muss.«
So war es jedenfalls bis zum Krieg. Wie sich diese mafiösen Strukturen im Verlauf des Krieges weiterentwickeln werden, bleibt für Autorin abzuwarten. Das Stadttheater hatte zu diesem Jahrestag des Überfalls Russlands gleich eine kleine Veranstaltungsreihe zusammengestellt. Dazu zählt neben der Fotoausstellung »Hoffnung Splitter« mit dem Hilfsnetzwerk »GAiN« im Foyer des Großen Hauses eine Aufführung des Schauspiels »Hundepark« und im Anschluss das Bargespräch »Absacker« mit der Journalistin Inga Lizengevic.
»Hundepark« ist wieder am 19. März und am 1. Mai im Stadttheater zu sehen.