Eine Darstellerin und drei Figuren

Gießen (bjn). Eine junge Frau sitzt im Zug nach Gießen und wird während der Fahrt von einem Mann angequatscht. Doch das Gespräch entwickelt sich in keine gute Richtung, was sie ihm auch deutlich zu verstehen gibt. Worauf ihr Gegenüber unwirsch reagiert: »Wirst du etwa lieber getindert?!« So schildert sie das Erlebnis einer »sehr lieben Freundin« und einem »sehr lieben Freund«, mit denen sie später gemeinsam am Tisch sitzt.
Doch auch die beiden können sich im Gespräch nicht recht in die Position der jungen Frau hineinversetzen. Schließlich »ist doch gar nichts Schlimmes passiert«.
Übergriffe auf Selbstbestimmung
Davon erzählt ein Kurzfilm, der bei einem Workshop des Jungen Theaters entstanden ist und jetzt öffentlich präsentiert wurde. Die Nachwuchssparte des Stadttheaters Gießen bietet unter der Leitung des Ensemblemitglieds und Schauspielpädagogen Sebastian Songin regelmäßige Treffen an, in denen sich die theateraffinen jungen Leute ausprobieren können. Dort werden die Grundlagen der Darstellenden Kunst erlernt und verfeinert. Gleichzeitig setzen sich die Teilnehmer künstlerisch-kreativ mit der eigenen Lebenswirklichkeit auseinander. So entstand auch der Film, in dem Lione Stienecke gleich alle drei Rollen übernommen hat. Fachmann Songin schwärmt nach der Arbeit von den Fähigkeiten der Anfang 20-Jährigen. »Sie hat ein unglaubliches Talent.«
Inhaltlich widmete sich der Workshop kleinen und großen Übergriffen auf die Selbstbestimmung der Teilnehmer. So entstanden verschiedene Texte, zu denen auch die Vorlage des Films gehörte. Es sind Erlebnisse, die Lione Stienecke selbst gemacht hat - im Zug wie später mit ihren beiden Freunden.
Im von Songin gedrehten Film entwickelt sich ein Gespräch, in dem die junge Schauspielerin durch unterschiedliche Sitzpositionen, Frisuren und Pullis die jeweilige Figur darstellt. Und auf diese Weise ziemlich souverän in die verschiedenen Sprecherpositionen schlüpft. »Das hat in einem einzigen Dreh funktioniert«, berichtet Regisseur Songin. »Nach drei Durchläufen mit den jeweiligen Figuren und drei Stunden waren wir durch.«
Songin plant, den so entstandenen Film künftig erneut öffentlich zu präsentieren. In welcher Form, steht allerdings noch nicht fest. Dafür geht die Workshop-Reihe des Jungen Theaters am Montag, 9. Januar, in die nächste Runde. 12- bis 14-Jährige treffen sich um 16.30 Uhr, die ab 15-Jährigen dann um 19 Uhr. Neuzugänge sind weiterhin willkommen. Weitere Infos gibt es über die Homepage des Stadttheaters: www.stadttheater-giessen.de.
Unterdessen feierte eine Inszenierung der langjährigen Stadttheater-Intendantin Cathérine Miville vor wenigen Tagen Premiere am Eduard-v.-Winterstein-Theater im sächsischen Annaberg-Buchholz. Die im vergangenen Sommer nach 20 Jahren aus Gießen verabschiedete Theatermacherin inszeniert dort die Schauspielkomödie »Extrawurst« von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob. Darin geht es um einen aus dem Ruder laufenden Grillabend. Intendant des Bühnenhauses in der Erzgebirgsstadt ist seit 2021 Moritz Gogg, der zuvor zwei Jahre lang als Operndirektor am Stadttheater Gießen beschäftigt war.