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Eine kritische Betrachtung

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Wer wissen möchte, was sich in diesem alten, geheimnisvollen Koffer verbirgt, sollte der Ausstellung mal einen Besuch abstatten. Foto: Schultz © Schultz

Die neue Ausstellung »Die Klassifizierung der Welt« befasst sich an der JLU Gießen mit dem Zustandekommen universitärer Sammlungen zur Zeit etwa des Kolonialismus.

Gießen . An der Justus-Liebig-Universität (JLU) geht man aktuell in sich und reflektiert, wie die Uni und viele Museen zu ihren wertvollen Sammlungen kamen. In der hochinteressanten Ausstellung »Die Klassifizierung der Welt« beginnt gerade eine kritische Betrachtung der Zeit und der Umstände, unter denen sich die Wissenschaft so manches kostbare Stück zu eigen machte. Hiermit hellt man nüchtern die Zusammenhänge auf, die inzwischen sehr kritisch gesehen werden. »Es ist ein wichtiger, bedeutender und auch besonderer Termin, auch für mich persönlich,« erklärte Unipräsident Joybrato Mukherjee bei der Eröffnung im Palmenhaus des Botanischen Gartens.

Die Schau ginge zurück auf eine Kommission zum Thema »Koloniales Erbe in Hessen«, die vor wenigen Jahren eingerichtet wurde. »Was wir hier im Kleinen sehen, prägt momentan auch die großen Debatten in der Republik; ein Thema, mit dem wir uns erst seit Kurzem intensiver beschäftigen«, fügte Mukherjee hinzu. »Auch hier in der vermeintlichen Provinz stellen sich die gleichen Fragen - wie gehen wir mit dem kolonialen Erbe um, mit den Sammlungen, die sich auch an dieser Universität befinden, auch wenn wir hier Gottseidank keine Restitutionsdebatten führen müssen.«

Geschichtswissenschaftlerin Prof. Bettina Brockmeyer fasste zusammen: »Europäische Forschende bereisten mit Hilfe kolonialer Strukturen ferne Regionen, beschrieben und definierten diese dabei und nahmen Objekte mit, die bis heute Museen und Sammlungen füllen. Archive und Sammlungen enthalten große und entscheidende Leerstellen. Sie zeugen überdies nicht nur von zeitgenössischem Wissen, sondern auch von Ignoranz, Nichtwissen, Ideologien und rassistischen Weltbildern.«

Es ginge dabei um einen Prozess der Weltaneignung, der zum Kolonialismus gehörte: das Klassifizieren der Welt. »Damit befinden wir uns mitten im aktuellen Dialog. Mit einem imperialen Blick durchforsteten Ärzte, Beamte und Wissenschaftler die Gebiete, in denen sie arbeiteten, und kauften, tauschten. Oder sie plünderten und raubten«, sagte Brockmeyer. Und fügte hinzu: »Begründet wird diese Herrschaft mit einem Selbstverständnis der Überlegenheit und Zivilisierungsmission. Kolonialismus ist in dieser Definition Ideologie und Praxis. Es ist das Fundament für eine hierarchische Beziehung. Eine neue Aufmerksamkeit auf die universitären Sammlungen kann dazu dienen, einige der zahlreichen Leerstellen kenntlich zu machen oder sogar mitunter zu füllen und damit neues Wissen bereitzustellen - ja, in einer langen Perspektive betrachtet, kann eine neue Aufmerksamkeit helfen, Wissen zu dekolonisieren«, schloss sie. Magnus Huber, Professor für Englische Sprachwissenschaft, ergänzte: »Insbesondere möchten wir dazu beitragen, die Auswirkungen des Kolonialismus und der kolonialen Vergangenheit an der Universität Gießen aufzuarbeiten. Auf diese Weise wollen wir eine Basis schaffen für ein tieferes Verständnis der Wechselwirkung zwischen kolonialem wissenschaftlichen Sammeln und universitärer Wissensproduktion sowie wissenschaftlichem Handeln insgesamt.«

Die Idee zur Schau wurde auch vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst angestoßen. Huber: »In unserer Ausstellung ›Die Klassifizierung der Welt. Universitäres Sammeln im kolonialen Kontext‹ identifizieren und benennen wir exemplarisch koloniale Spuren in drei Disziplinen: Archäologie, Botanik und Orientalistik. Unterstützt wird dies durch Expertise aus den Geschichts- und Sprachwissenschaften, aus der Universitätsbibliothek, den Universitätssammlungen und dem Universitätsarchiv. Gemeinsam werfen wir einen Blick auf die Wissenschaftspraxis im kolonialen Kontext.«

Die Ausstellungstafeln und gezeigten Objekte sind als Auftakt zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit an der JLU gedacht. Als letzte Tafel steht eine Flipchart zur Verfügung, auf der Besucher einfach Anregungen und Kritik notieren können.

Das Palmenhaus sei ebenfalls ein typischer Sammlungsbehälter für universitäres Wissen, sagte Huber. Es ist zugleich ein anregender Ort zur Betrachtung der Ausstellung. Sie zeigt in Kombination mit den Schrift- und Bildtafeln interessante und wissenswerte Aspekte, sagen wir, des wissenschaftlichen Kolonialismus: ein großer Fortschritt. Aus konservatorischen Gründen können die Originalstücke nicht alle im Palmenhaus gezeigt werden, man sieht Repliken. Eine Vitrine mit Originalen aus Troja und Ägypten befindet sich in der Antikensammlung im Oberhessischen Museum. Die Ausstellung ist noch bis 16. Oktober zu sehen.

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