Eine Welt der Schrecken und der Tristesse

Zwei neue Bücher führen zu historischen Geistesgrößen des 19. Jahrunderts: zum einen geht es um eine Reise des Russen Alexander Puschkin, zum anderen um einen Roman des Franzosen Jean Lorraine.
1830 macht sich Alexander Puschkin von Moskau aus auf nach Nischni Nowgorod, genauer nach Boldino, um sich dort ein Landgut der Familie als Besitz zu sichern. Puschkin, der den Russen schon zu Lebzeiten als ihr größter Dichter galt, braucht die Absicherung und das Geld für die von ihm angebahnte Hochzeit mit Natalja Gontscharowa. Doch als er sich Ende August auf den Weg macht, hat er mit den Tücken der ausbrechenden Cholera zu kämpfen, Quarantänen aller Orten auf dem langen Weg zwingen Puschkin zu Zwangsaufenthalten und auch die Rückkehr aus Boldino ist ihm erschwert, immer wieder hindern ihn (Ein)Reiseverbote und weitere Quarantänen an einem zügigen Fortkommen.
»Puschkin in Quarantäne« heißt denn auch der schmale Band mit von Rosemarie Tietze ausgewählten und kommentierten Briefen und Zitaten aus jenen drei Monaten. Monate, die den Ruhm des bis heute als russischer Nationaldichter geltenden Puschkin endgültig manifestierten, stellt der Herbst von Boldino doch seine produktivste Schaffensphase dar. Das Büchlein zeigt das Werk hinter dem Werk, die Schwierigkeiten, die der Produktivität zugrunde lagen, durch die sich gleichsam die Dichtung, ja das Schreiben Bahn brach.
Zugleich geboten wird ein Blick auch in Puschkins russische Seele. In Zeiten, da eine Reise nach Moskau uns seltsam fern erscheint und Quarantänen seltsam nah, eine ganz andere Form der Annäherung an Russland. In einem schön gestalteten Büchlein.
Das gilt auch für »Monsieur de Phocas« von Jean Lorraine, aus dem Französischen von Christoph Pollakowski, wie der Puschkin-Band in der Friedenauer Presse herausgegeben. Lorraine, ein Enfant terrible des ausgehenden 19. Jahrhundert in Paris, sieht auf den ersten Blick aus wie Marcel Proust, mit dem er sich allerdings nicht grün war, im Gegenteil: 1897 duellierten sich Lorraine und der Schöpfer von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, weil er diesem eine sexuelle Beziehung mit dem Sohn Alphonse Daudets unterstellt hatte.
Dieser Hinweis gibt die Richtung vor, in welchem Dunstkreis sich das literarische Schaffen des als Skandalreporters geltenden Lorraine bewegte: Symbolismus, Fin de Siecle, Dandytum in Paris. In »Monsieur de Phocas« schildert Lorraine, ähnlich wie Joris-Karl Huysmans in »Gegen den Strich«, dem wohl bekanntesten und nachhaltigsten Werk der Decadence, das Leben eines an den Zeitläuften und gesellschaftlichen Konventionen zerbrechenden jungen Mannes der sich, wie dessen Protagonist Jean Floressas des Esseintes, in Phantasiewelten und Obsessionen flüchtet.
Die Welt als Schrecken, das Leben ein Panoptikum der Grausamkeiten. Ein Roman überbordender Phantasie, aber auch von gnadenloser Genauigkeit in den Beobachtungen: »Diese armen mutlosen Gesichter der alten Handwerker und Kleinbürger trugen die täglichen Sorgen niederer Arbeiten, die Last der kümmerlichen Besorgnisse, die Sorge um fällige Zahlungen und den Schrecken des Monatsendes; die Müdigkeit dieser Habenichts im Kampfe mit dem Leben, ein ranziges Leben ohne Überraschung, die ganze Tristesse einer Existenz ohne einen einzigen erhabenen Gedanken im Schädel hatte ihnen dieses freudlose und geistlose Hässlichkeit eingebracht.« Als sei es ein Stück von heute.
Rosemarie Tietze (Hrsg.): Puschkin in Quarantäne. 113 Seiten. 22 Euro. Friedenauer Presse.
Jean Lorrain: Monsieur De Phocas. Friedenauer Presse, 310 Seiten. 28 Euro.