Einsatz für die Durchschnittsnase

Wenn es in Gießen zum Himmel stinkt, kommen bei einer Rastermessung Geruchsprobanden - und ihre Nasen - zum Zuge.
Gießen . Frühlingshafte Temperaturen und viel Sonnenschein - wie wäre es da mit einem Frühstück auf der Terrasse? Der Appetit auf frischgebackene Brötchen kann sich aber schnell in Übelkeit verwandeln, wenn es dank der benachbarten Fabrik buchstäblich drei Meilen gegen den Wind stinkt. Geruchsbelästigungen können das nachbarschaftliche Verhältnis ebenso belasten wie andauernder Lärm und zu Beschwerden führen. Um herauszufinden, ob diese gerechtfertigt sind, kann das Regierungspräsidium (RP) Gießen eine Messung vor Ort anordnen. Dabei kommen aber keine ausgeklügelten physikalisch-chemischen Messverfahren zum Einsatz, sondern Geruchsprobanden, die vor Ort schnuppern. Denn: »Es gibt kein besseres Messgerät als die menschliche Nase«, betont Michael Riebel, der beim RP im Dezernat für Immissionsschutz arbeitet.
Zusammen mit seinen Kollegen Felix Bender und Alexander Rupp erklärt er, wie die Geruchstester vorgehen: Beschweren sich beispielsweise Anwohner über den Gestank eines stahlverarbeitenden Betriebs in ihrer Nachbarschaft, wird über das zu beurteilende Wohngebiet ein Raster gelegt. Die einzelnen Quadrate haben eine Kantenlänge von rund 250 Metern, an den Schnittpunkten befinden sich die Messstellen.
Und genau hier wird für die Geruchsimmissionsmessung geschnuppert. Und zwar nicht nur tagsüber und unter der Woche, sondern beispielsweise auch nachts und am Wochenende. In der Regel sind die Probanden über einen Zeitraum von zwölf Monaten im Einsatz. Gegebenenfalls kann die Rastermessung auch nur über ein halbes Jahr stattfinden, wenn dabei alle Witterungsperioden abgedeckt sind, also sowohl Sommer- und Wintertage als auch Übergangszeiten berücksichtigt werden.
Wann welcher Messpunkt dran ist, ist dabei genau vorgegeben. Außerdem dürfen die Probanden sich natürlich nicht durch andere Einflüsse ablenken lassen, also beispielsweise weder rauchen, noch essen oder trinken. Auch Bewegungen sind nicht erwünscht. Exakt alle zehn Sekunden soll dann der Geruchseindruck aufgenommen werden. Also bitte einmal tief einatmen und anschließend den Geruch im Fragebogen festhalten.
Eine Einzelmessung wird über zehn Minuten durchgeführt. Durch den zehn-Sekunden-Takt ergeben sich 60 Werte. Wird dabei bei mindestens zehn Prozent ein vom Betrieb verursachter Geruch festgehalten, gilt der Zeitraum als sogenannte Geruchsstunde. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz sieht vor, dass in Wohngebieten nicht mehr als zehn Prozent der Gesamtanzahl der Jahresstunden als »Geruchsstunden« gewertet werden dürfen - andernfalls gilt die Geruchsbelastung als erheblich. In dem Fall könnten Schutzmaßnahmen für Anwohner nötig sein. »Es darf riechen, aber nicht zu viel«, verdeutlicht Alexander Rupp.
Schnuppern wird überwacht
Durchgeführt wird die Messung nicht vom RP, sondern von staatlich zugelassenen Messstellen. Um sicherzustellen, dass die Probanden auch wirklich vor Ort sind und nicht auf dem heimischen Sofa irgendwelche Fantasiewerte eintragen, überwacht das RP das Schnuppern aus der Distanz - übrigens auch dann, wenn die Geruchsproben nachts genommen werden. »Die Behörde schläft nicht«, sagt Michael Riebel. Außerdem wird überprüft, ob die Werte mit Blick auf Wind- und Wetterdaten plausibel sind.
Der Geruchsverursacher wird übrigens nicht im Vorfeld über die Messzeiten informiert. Schließlich soll der Betrieb normal weiterlaufen und nicht zeitweise heruntergefahren werden, um so eine geringe Belästigung vorzutäuschen. Der Verursacher muss zudem die Kosten für die Messung übernehmen - zwischen 30 000 und 50 000 Euro werden hierfür fällig.
Aber wie wird man überhaupt ein Geruchsproband? Eine »Supernase« wird hierfür explizit nicht gebraucht, sondern der Durchschnitt. Um den zu finden, müssen die Probanden erstmal einen Geruchstest an einem Olfaktometer absolvieren. Über eine Nasenmaske atmen sie ein geruchsneutrales Normgas ein, dem stufenweise entweder n-Butanol - ein scharfer, alkoholhaltiger Geruch - oder Schwefelwasserstoff, der nach faulen Eiern riecht, hinzugefügt wird.
In großer Verdünnung mit der künstlichen Luft sind die Gerüche nicht wahrnehmbar. Wenn jedoch der stinkende Anteil erhöht wird, kommt irgendwann der Punkt, wo die Riecher ihn erschnuppern und dies per Knopfdruck signalisieren. Anhand dieser Geruchsschwelle lässt sich feststellen, ob jemand als Proband taugt oder nicht: Zu geruchsempfindlich darf man nicht sein. Aber wer den Knopf erst drückt, wenn die übrigen Testriecher grün anlaufen, ist auch kein passender Kandidat.
Gesammelter Gestank
Das gleiche Verfahren kommt übrigens auch dann zum Einsatz, wenn etwa bei einem Fabrikschornstein Emissionsmessungen stattfinden. Hier wird über einen Zeitraum von 30 Minuten Luft in einen Schlauch abgeleitet. »Der Schlauch ist geruchsneutral und besteht aus dem gleichen Material wie ein Bratschlauch«, erläutert Felix Bender. An den so genommenen Proben - mindestens drei, eher sechs bis neun - wird dann ebenfalls mit Hilfe eines Olfaktometers geschnüffelt.
Kommt bei der Rastermessung vor Ort heraus, dass die Geruchsbelastung für die Anwohner erheblich ist, heißt das allerdings nicht, dass der Betrieb schließen muss. Wird ein einzelner Stoff als Haupt-Geruchsquelle ausgemacht, könnte dieser gegebenenfalls ersetzt werden - das wäre dann wohl die einfachste und kostengünstigste Lösung. Der Einbau einer Filteranlage oder, bei einer offenen Fläche, eine Einhausung plus Filter, kann richtig teuer werden »Man muss beachten, welche Maßnahmen verhältnismäßig sind. Letztendlich kommt es sehr auf den Einzelfall an«, betont Felix Bender. Geruch, erzählt sein Kollege Michael Riebel, sorgt zwar nicht ganz so häufig für Streit, wie Lärm. »Aber im Umfeld von Anlagen kommt es regelmäßig zu Beschwerden.«
Schwierig wird es auch, wenn Kommunen zu wenig Abstand einhalten zwischen einer bestehenden Anlage und neu hinzugekommener Wohnbebauung. Das Verwaltungsgericht Gießen hat in der Vergangenheit bei einem Streitfall entschieden, dass Anwohner hier mehr Immissionen hinnehmen müssen. Michael Riebel rät daher: »Ich empfehle jedem Häuslebauer, sich vor dem Grundstückskauf erstmal eine Woche lang auf dem Grundstück aufzuhalten - und zwar nachts und tagsüber.«