Emotionale Stärke und leise Töne

Das Rachmaninov-A-Cappella-Ensemble aus Odessa begeistert erneut in der Kulturkirche St. Thomas-Morus in Gießen.
Gießen. Zarteste, berührende mehrstimmige Gesänge aus der geistlichen Tradition der Ukraine standen am Sonntagabend auf dem Programm der St. Thomas-Morus-Kirche. Als Gäste begrüßte man erneut das Rachmaninov-A-Cappella-Ensemble aus Odessa.
Das Ensemble widmet sich speziell dem Studium und der traditionellen A-cappella-Aufführung liturgischer Gesänge aus der orthodoxen Kirche. Im Unterschied zum Konzert im letzten Jahr war diesmal eine Sopranistin dabei. Anastasia Shevchenko ergänzte mit heller, angenehm klarer Stimme das ausgesprochen ausgewogene Trio mit Bariton Gregory Kowalenko, Tenor Alexander Mazur und Bassist Dionisiy Diakovskii.
Tief religiös
»Tief religiöse Gesänge« hatte Organist Jakob Handrack in seiner kurzen Begrüßung angekündigt, und die Gäste begannen sogleich ohne Umschweife, fast nüchtern, mit ihrem Auftritt. Alle waren schwarz gekleidet, doch nur Bariton und Dirigent Kowalenko ist Priester. Er besorgte auch die etwas karge deutsche Moderation. Karg oder nüchtern wurde das Konzert dann jedoch in keiner Weise.
Im einleitenden »Vespergesang« wirkte der Sopran noch etwas zu leise, doch das Gleichgewicht stellte sich umgehend ein; in »Maria Lobgesang« zeigte man seine Stärken. Ein anhaltender Grundgesang bildete das solide Fundament für die Solostimmen und vermittelte den typischen osteuropäischen Klangeindruck.
Überhaupt, der Eindruck: Diese vier jungen Leute nahmen schon mit den leisen, sanften Titeln - ein gedrucktes Programm wurde nicht ausgegeben - den mit einem massiven Hall ausgestatteten Raum bescheiden und doch sehr überzeugend für sich ein. Der Umgang mit der Akustik gehört offenkundig zu ihren Stärken, sie musizierten ganz unbeschwert und gewannen mit ihrer professionellen Stabilität, Geschlossenheit und emotionalen Stärke umgehend die Herzen der Besucher.
Man mochte sich dieser freundlichen und ästhetischen Begegnung ganz und gar nicht entziehen oder gar widersetzen. Die einzige Option war ein behagliches Hingeben und Genießen.
Entschleunigung
Das erste Glanzlicht war ein strahlendes »Kyrie eleison«, das einen wesentlichen Aspekt des Konzerts zur Geltung brachte, das langsame Tempo. Schon wenn Kowalenko sich nach dem Mikrofon umwandte, vermittelte seine gemessene Bewegung Ruhe, vielleicht sogar Entschleunigung. Die Zeit schien tatsächlich halb so schnell zu vergehen wie sonst - wohltuend.
Mit dem »Leib Christi« wurde die Musik nochmals langsamer, zarte Flächen leuchteten, der Sopran setzte ein, dazu ein exzellenter Bass. Das Ganze vorgetragen mit einer herausragenden Transparenz, die jeden einzelnen Ton leicht wahrnehmbar machte.
Man vernahm eine erstaunlich umfassende Ansprache der Zuhörer, ein Mitnehmen in diese Klangwelten. Zum Abschluss zeigte man dann noch einmal alles mit »Der große Gott«, einer der Weisen mit leichtem Volksliedcharakter. Das Ensemble schwang sich zu ganz großer, kraftvoller Intensität auf, ging mit seinen Stimmen bis an die Grenzen des ästhetisch Machbaren und beeindruckte mit der großen physischen Energie. Sehr intensiver, langer Beifall.
Frohgemut, fast fröhlich kam die Zugabe, mit sehr schöner Dynamik, erst mit vollem Klang, dann mit einem zarten Abschluss. Insgesamt ein beeindruckender Abend