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»Energiewende beschleunigen«

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Von den wirtschaftlichen Auswirkungen sind die unterschiedlichsten Industriebranchen betroffen. Symbolfoto: Jan Woitas/dpa © Red

Gießen . Die russische Invasion in der Ukraine wird nicht ohne Folgen für die heimische Wirtschaft bleiben. Auch wenn sich bereits seit 2011 die Anzahl deutscher Firmen auf dem russischen Markt fast halbiert hat, sind noch 3650 Firmen mit deutschem Kapital in Russland registriert, darunter auch Unternehmen aus der Region. Der Anzeiger sprach mit Tim Müller, dem stellvertretenden Leiter des Geschäftsbereichs International bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Gießen-Friedberg, über die Situation.

Wie schätzen Sie die Konsequenzen für die heimische Wirtschaft ein?

Aufgrund der EU-Sanktionen kommt es zu Einschränkungen im Waren- und Dienstleistungsverkehr für heimische Unternehmen. Die EU-Finanzsanktionen bedeuten unmittelbar, dass beispielsweise beim Ausfall im Carnet ATA-Verfahren* (Russland) keine Bürgschaftszahlungen mehr erfolgen können.

Wie bewerten die Unternehmen die Lage?

Die Hälfte der deutschen Unternehmen mit wirtschaftlichen Verbindungen nach Russland beurteilt die Lage und Perspektive seiner entsprechenden Geschäfte negativ. Von ihnen hatten auch bereits vor der aktuellen Zuspitzung der Russland-Ukraine-Krise nur neun Prozent eine Verbesserung der Geschäfte erwartet, 49 Prozent gingen von einer Verschlechterung aus. Damit sinken die Erwartungen der deutschen Unternehmen auf einen Stand, wie der DIHK ihn zuletzt 2014/15 für die gesamte Eurasische Region nach der Annexion der Krim durch Russland ermittelt hatte. In keinem Land der Welt wird die Geschäftsperspektive derzeit negativer beurteilt wie in Russland. Der DIHK rechnet mit einer weiteren Eintrübung, da neben den bestehenden Handelshemmnissen nun auch zusätzliche Sanktionen der EU und der USA hinzukommen.

Was sind die Haupthemmnisse?

Unabhängig von der aktuellen geopolitischen Lage und den damit verbundenen Sanktionen sind die Unternehmen mit Russland-Geschäft von Handelshemmnissen betroffen. Diese bestehen etwa in Form von komplexen Zertifizierungsanforderungen und Zusatzzöllen für in Russland und den anderen Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) vertriebene Produkte wie Maschinen oder elektrotechnische Geräte. Durch den Trend und oftmals den Zwang zur Lokalisierung stiegen in den vergangenen Jahren die deutschen Direktinvestitionen in Russland. Obwohl die deutschen Unternehmen damit zu den aktivsten ausländischen Investoren in Russland gehören, haben laut AHK Russland immer mehr Betriebe in den vergangenen Jahren den russischen Markt verlassen.

Wird sich die ohnehin schon angespannte Situation durch Rohstoffengpässe und die damit verbundenen Lieferschwierigkeiten weiter verstärken?

Das ist nicht auszuschließen. 2021 importierten dem Statistischen Landesamt zufolge hessische Unternehmen Waren im Wert von 4,4 Milliarden Euro aus Russland. Die gesamten Importe Deutschlands lagen bei 33,1 Milliarden Euro.

Müssen wir mit weiter steigenden Energiepreisen rechnen?

Ein Vorsorgeplan zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit wurde durch die Bundesregierung veröffentlicht. Im Kern setzt der Plan hauptsächlich auf eine weitere Forcierung der Energiewende, die bestehende strategische Erdölbevorratung, eine organisierte Gasreserve und den Ausbau der LNG-Infrastruktur sowie eine Diversifizierung und Reservebildung bei Kohle. Ziel ist es, die hohe Abhängigkeit von russischen Importen bei fossilen Energieträgern zu überwinden.

Wie sieht es mit der Gasversorgung aus?

Anders als beim Öl existiert im Gasbereich keine strategische Reserve. Kurzfristig fanden bereits Ausschreibungen für sogenannte »Long Term Options« (LTOs) statt, mit denen die Speicherstände stabilisiert wurden und für die es bei Bedarf weitere Sonderausschreibungen geben sollte. Parallel sollen die Marktakteure zukünftig per Gesetz zur Einhaltung bestimmter Speicherstände verpflichtet werden. Außerdem sollen nun schnellstmöglich eigene LNG-Anlandepunkte in Deutschland entstehen, die gleich »wasserstofftauglich« gebaut werden. Bei der Kohle setzt die Bundesregierung mit der Bundesnetzagentur einen Prozess zur Diversifizierung der Kohlelieferketten sowie Beschaffung und Reservebildung gemeinsam mit den Kraftwerksbetreibern um.

Wie können Sie als IHK den Unternehmen helfen?

Wir stellen Informationen zu den aktuellen Entwicklungen über unsere Webseite, Newsletter und Sozialen Medien bereit. Einzelberatungen zu den Themen Warenverkehr, Dienstleistungen, Finanztransaktionen, Ursprungszeugnisse und Carnet ATA* sind, wie bisher auch, möglich. In Zusammenarbeit mit dem DIHK werden Informationen in verschiedenen Rubriken wie unter anderem »Warenverkehr«, »Transport« oder »Finanzdienstleistungen« stetig aktualisiert und über unseren Newsletter publiziert. Wir setzen uns gegenüber der Politik in Zusammenarbeit mit dem DIHK für Lösungen ein, die Folgen der Sanktionen für heimische Unternehmen abmildern.

Foto: IHK/Bender

* Das Carnet ATA ist ein internationales Zollpassierscheinheft, das der Vereinfachung von Zollformalitäten bei der vorübergehenden Verwendung bestimmter Waren im Ausland dient.

Ausführliche Infos sowie Hilfs- und Beratungsangebote für heimische Unternehmen finden sich auf der Homepage www.giessen-friedberg.ihk.de.

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