Enorme Belastung abfedern

Ob Bäcker oder Bauunternehmen: Die »Preisexplosion« trifft alle Betriebe im Bereich der Kreishandwerkerschaft Gießen. So werden Forderungen nach Entlastung laut.
Gießen. Benzin, Strom, Gas, Öl, Baumaterial - durch den Krieg in der Ukraine ist alles teurer geworden. Was für den privaten Verbraucher schon eine enorme Belastung darstellt, ist für Handwerksbetriebe eine echte Herausforderung. »Zu Jahresbeginn waren wir noch optimistisch, alles deutete auf eine Entspannung, auch im Hinblick auf die Lieferketten, hin«, erklärt Björn Hendrischke, Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Gießen, im Gespräch mit dem Anzeiger. »Die Folgen des Ukrainekrieges haben diese Hoffnung zunichte gemacht.« Der »Preisschock« bei Energie setze den Betrieben massiv zu. Umso mehr, als er noch zu den ohnehin schon explosionsartigen Preisanstiegen bei vielen Materialien hinzugerechnet werden müsste. »Die aktuellen Preissprünge sind historisch und führen zum Teil zu nicht kalkulierbaren Risiken in unseren Mitgliedsunternehmen.«
Die stark gestiegenen Kosten ließen sich nicht vollständig an die Kunden weitergeben. Die Energiepreisbelastung mache die nach zwei Coronajahren bereits sehr dünne Liquiditätsschicht noch dünner. Hier macht sich Hendrischke für Preisgleitklauseln - Wertsicherungsklauseln, bei der sich der Lieferant das Recht vorbehält, bei Erhöhung seiner Selbstkosten den Preis einer Ware anzupassen - stark. Diese fordert er bei öffentlichen Vergaben, erachtet sie aber im privaten Bereich als nicht realisierbar. Hier könnten die Betriebe bei vor der Krise geschlossenen Verträgen nur auf ein Entgegenkommen der Kunden hoffen.
Als weitere Entlastungsmaßnahme fordert der Hauptgeschäftsführer eine Herabsetzung der Verbrauchersteuer bei Energieprodukten auf die europäisch zulässige Mindesthöhe. »Auch eine temporäre Aussetzung der CO2-Abgabe dürfte aktuell kein Tabu sein«, betont er. Unmittelbar von der aktuellen Krise seien vor allem Betriebe betroffen, in denen ukrainische Fachkräfte ausfallen, weil sie nach Hause fahren, um ihr Land zu verteidigen oder ihre Familie zu unterstützen.
Lebensmittel- und Metallhandwerk gehören zu den energieintensivsten Betrieben. Gerade für Handwerksbäckereien mit ihren Backöfen und Auslieferungsfahrzeugen stellen die gestiegenen Energiepreise eine enorme Belastung dar. Aus diesem Grund fordert der Bäckerverband, die Mehrwertsteuer auf Benzin kurzfristig auf sieben Prozent zu senken, den Benzinpreis vorübergehend einzufrieren sowie die Pen lerpauschale zu erhöhen. Auch sollte die Stromsteuer auf den europaweiten Mindestsatz gesenkt werden.
»Eine Entlastung wäre schon wichtig. Wenn wir die Preissteigerungen an unsere Kunden weitergeben, steht zu befürchten, dass wir sie verlieren«, erklärt Bernd Braun, Inhaber von sechs Bäckereien in Gießen und Launsbach. Bereits am 1. Januar dieses Jahres habe er die Preise erhöhen müssen. »Corona war schon ein enormer Kostentreiber. Jetzt müssen wir die betriebswirtschaftliche Auswertung abwarten und dann reagieren«, betont er. Im Bäckerhandwerk sollte der Materialeinsatz 25 Prozent nicht übersteigen. Aufgrund der schlechten Ernte sei der Preis für einen Doppelzentner Mehl bereits von 33 Euro im vergangenen Sommer auf 40 Euro im November geklettert. Aktuell läge er nun bei etwa 55 Euro. »Mehl ist ein Spekulationsobjekt, das an der Pariser Börse gehandelt wird«, weiß er. Auch die Preise für Molkereiprodukte, Zucker und Öl hätten stark angezogen.
Schon seit langer Zeit werden die Öfen in den Bäckereien mit Gas betrieben. »Das ist effizienter und sauberer«, sagt Bernd Braun. Hier läge der Preis aktuell zwischen 14 und 18 Cent. »Zum Glück habe ich einen längerfristigen Vertrag und zahle 5,8 Cent.« Auch beim Strom hat Braun dank seines Energieberaters einen langfristigen Vertrag abgeschlossen. 5,9 Cent zahlt der Bäcker ohne Umlagen und Steuern pro Kilowatt, wer neu abschließt zahlt zwischen 60 und 90 Cent. Ein weiterer Kostentreiber sei natürlich Sprit. »Da kann ich froh sein, dass ich nur ein kleines Filialnetz habe«, betont er.
Zu schaffen macht ihm auch die Konkurrenz durch SB-Theken in Supermärkten. »Die machen uns bei Standardprodukten die Preise kaputt.« Aus diesem Grund setzt Bernd Braun in seinen Bäckereien auf besondere Spezialitäten, die beispielsweise mit Schweizer Ruch- oder auch Dinkelmehl hergestellt werden. Aber dieses Mehl sei natürlich auch sehr teuer. »Von Standardprodukten können wir nicht mehr leben«, bedauert er. Für eine weitere Kostenexplosion werde auch die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro im Herbst sorgen. »Hier fände ich eine Übergangsregelung für die Einarbeitungsphase neuer Aushilfskräfte gut.«
»So eine Existenzangst wie im Moment hatten wir in den 50 Jahren unseres Bestehens noch nie«, sagt Roswitha Viehmann (Viehmann GbR Güterkraftverkehr) in Gießen. Nicht nur die Spritkosten, sondern auch die Kosten für Reifen hätten sich in den letzten Wochen verdoppelt. »Bei fünf Autos und zwei Anhängern macht uns das ganz schön zu schaffen«, bedauert sie. Zwar sei die Auftragslage gut, doch sei es schwierig, die Mehrkosten auf die Kunden umzulegen. »Die Regierung müsste sich an dieser Stelle was einfallen lassen.« Gerade Fuhrunternehmen sei man in dieser Beziehung noch nie entgegengekommen. Darüber hinaus würde zum Teil der Tankstoff gestohlen. »Das ist auch früher hin und wieder mal vorgekommen, wir fürchten aber, dass wir nun verstärkt aufpassen müssen.«
»Die Mehrkosten können selten an die Kunden weitergegeben werden«, erklärt auch Kay-Achim Becker. Denn in den wenigsten Fällen sei im Vorfeld eine Lohn- oder Stoffgleitklausel vereinbart worden. »Seit Ende vergangenen Jahres sind allein die Stahlpreise um 50 Prozent gestiegen«, weiß der Kreishandwerksmeister. Zudem sehen sich gerade Bauunternehmen mit massiv steigenden Energie- bzw. Treibstoffpreisen konfrontiert. »Viele Ziegelöfen werden mit Gas betrieben«, erklärt der Bauunternehmer aus Fernwald. »Die Auftragslage ist gut, wir fürchten uns eher vor Materialengpässen.« Aktuell benötige man allerdings längere Vorlaufzeiten.