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Erlebte Gemeinschaft kann Wärme spenden

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Von: Benjamin Lemper

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giloka_2112_sonja2_21122_4c © Red

»Ich feiere nicht Weihnachten, weil alles um mich herum glänzt. Ich feiere Weihnachten trotz dieser beängstigenden Wirklichkeit«, sagt die Pfarrerin Sonja Löytynoja von der Luthergemeinde Gießen.

Das dritte Jahr in Folge kann rund um Heiligabend von Normalität immer noch keine Rede sein. Wie weihnachtlich ist Ihnen da überhaupt zumute?

Ich glaube, in unserer Gesellschaft hat sich eine neue Form der Normalität eingestellt. Dinge, die vor einigen Jahren undenkbar waren, sind jetzt Normalität. Weihnachten heißt für mich immer auch, herausgezogen zu werden aus dieser Normalität und dem Alltag. Von daher ist mir dieses Jahr besonders weihnachtlich zumute. Ich feiere nicht Weihnachten, weil alles um mich herum glänzt (dann würden wir nie Weihnachten feiern). Ich feiere Weihnachten trotz dieser beängstigenden Wirklichkeit. In der Gemeinde bieten wir angepasst an die Situation weiterhin unterschiedliche Formate an. Eine Open-Air-Veranstaltung wird auf dem Alten Friedhof stattfinden, ebenso Gottesdienste in den Kirchen.

Viele Menschen sind zurzeit verunsichert, haben Zukunftsängste: Wie erleben Sie das und wie gehen Sie damit um?

In der Tat sind viele Menschen stark verunsichert. Als Seelsorgerin sehe ich es als meine Aufgabe, die Ängste und Sorgen zur Sprache zu bringen, sie ernst zu nehmen und zuzuhören. Als Kirchengemeinde versuchen wir, bedürftige Menschen zu unterstützen. Ich kann dabei leider keine großen Lösungen liefern, wir können jedoch Mut zusprechen und Einzelfallhilfe vor Ort anbieten.

Die Energiekrise ist gewiss auch in den (ohnehin oft kühleren) Kirchen spürbar. Womit schaffen Sie es, im Gottesdienst trotzdem für besinnliche und wärmende Momente zu sorgen?

Mit Musik und Kerzen. Draußen werden wir ein Feuer in einer Schale haben, an dem man sich wärmen und ein Licht entzünden kann. Drinnen wird die Heizung angeschaltet sein, natürlich ein paar Grad kälter als üblich, aber aushaltbar. Auch hier wird es Kerzen und Musik geben. Ich hoffe, dass auch das Erleben der Gemeinschaft Wärme spendet. Wir können Besinnlichkeit inszenieren, aber vor allem an Weihnachten liegt es zum Glück nicht nur in unserer Hand. Die vertrauten Texte und Gott werden schon ihren Teil dazu beitragen.

In der Vorbereitung auf die Festtage gibt es für Pfarrerinnen und Pfarrer immer besonders viel zu tun. Als wie stressig empfinden Sie die Adventszeit?

Augen auf bei der Berufswahl, würde ich sagen. Die Adventszeit ist natürlich stressig, aber dafür auch eine besonders dichte und begegnungsreiche Zeit. Man trifft Menschen, die man sonst nicht so häufig sieht. Die Adventszeit ist gefüllt mit Begegnungen, Seelsorge und theologischer Arbeit, da man vermehrt Predigten und Texte schreibt. Genau diese drei Punkte gefallen mir aber sehr an meiner Arbeit. Adventszeit ist somit für mich eine positiv stressige Zeit.

Was wird das Thema Ihrer Predigt sein und welche Botschaft möchten Sie vermitteln?

(lacht) Predigten, statt Predigt. Aber auf eine Predigt freue ich mich besonders: Wir werden wieder ein Open-Air-Krippenspiel auf dem Alten Friedhof veranstalten. Dort wird es um die verschiedenen Perspektiven der Weihnachtsgeschichte gehen. Menschen kommen aus verschiedenen Richtungen und Perspektiven und sehen Jesus in der Krippe. Unterschiedliche Menschen, aus unterschiedlichen Ländern, mit verschieden erlebten Geschichten und Stellungen in der Gesellschaft blicken alle in eine Richtung - Jesus. Er verspricht Frieden für die Welt. Eine utopische Vorstellung und doch eine reale Sehnsucht.

Woran liegt es, dass die Kirchen vor allem an Heiligabend deutlich voller sind, es aber offenbar kaum gelingt, diesen Zuspruch in den Alltag »rüberzuretten«?

Das würde ich gar nicht so sehen. Wer einmal im Jahr in den Gottesdienst geht, geht doch regelmäßig in die Kirche. Ob der Zuspruch der Liebe Gottes zu den Menschen im Alltag Platz gefunden hat, zeigt sich nicht am Kirchgang, sondern an der Haltung zu mir und meinen Mitmenschen. Dieser Zuspruch darf nicht in der Kirche bleiben (wenn man ihn dort findet), sondern muss in die Welt getragen werden. Eine offene Frage bleibt für mich jedoch, ob Menschen die Kirche noch als Zuspruchsort sehen und sich mit ihr identifizieren. Unsere Sprache und unsere Formen müssen immer wieder neu überdacht werden. Das geht aber nur gemeinsam innerhalb der Gemeinden. Als Gemeinde sind wir auf der Suche nach zeitgemäßen Antworten auf existenzielle Fragen.

Wie läuft Weihnachten traditionell in Ihrer Familie ab?

Weihnachten ist in meiner Familie berufsbedingt »Weihnachten für andere«. Mein Mann arbeitet ebenfalls an Weihnachten und die Kinder sind mit dabei. Zwischendurch geht es immer mal nach Hause, um vom finnischen Weihnachtsschinken zu naschen. So ist es bei uns Tradition, dass man an Weihnachten nicht nur um sich selbst kreist, sondern anderen Menschen durch die eigenen Gaben und Begabungen eine Freude macht. Geschenke für die Familie gibt es erst am 1. Weihnachtsfeiertag - und wenn wir Glück haben, ist der Weihnachtsschinken bis dahin auch noch nicht komplett aufgegessen.

Erst Corona, jetzt Krieg und Energiekrise: Während der Pandemie galt es noch, Abstand zu halten und Maske zu tragen, diesmal müssen die Menschen sogar enger zusammenrücken, um nicht zu frieren - und gleichzeitig Solidarität zu bekunden. »Ich feiere nicht Weihnachten, weil alles um mich herum glänzt. Ich feiere Weihnachten trotz dieser beängstigenden Wirklichkeit«, sagt die evangelische Pfarrerin Sonja Löytynoja. » Genau in diese nicht-perfekte Welt ist auch Gott vor 2000 Jahren in Jesus gekommen und kommt auch heute «, betont der katholische Pfarrer Erik Wehner. Im Interview erzählen die beiden Theologen, wie sie diese Zeit erleben und wie sie mit den damit verbundenen Herausforderungen umgehen. (bl)

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KrippenaufbauOsnabrueckDo_4c_5 © Red

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